Aktuell

06.10.2016

Wahlkampfroman 2016. „So wird das Leben.“ 10. Folge.

Wahlkampfroman 2016.

So wird das Leben.

Zehnte Folge.1

Vroni blieb in Klagenfurt. Sie wohnte in der Wohnung der Großmutter und ging jeden Tag ins Spital. Bevor sie zur Großmutter in die Abteilung durfte, mußte sie sich umziehen, als würde sie in den Operationssaal gehen. Sie durfte mit der Großmutter nur mit Mundschutz sprechen. Aber Vroni konnte die Großmutter kaum anschauen. Von ihrem Genick ging eine Traube von Schläuchen in den buntesten Farben weg, und Vroni mußte immer auf diese Schläuche starren und wie sie sich schlängelten, wenn die Großmutter sich bewegte.

Die Großmutter war schwach und wollte nicht viel sprechen. Vroni saß an ihrem Bett. Zuerst hatte Vroni ihr die Hand halten wollen, aber die Großmutter hatte ihre Hand weggezogen. Vroni hatte nicht gleich begriffen gehabt, daß die Berührung ihrer Großmutter schmerzhaft sein konnte, und war beleidigt gewesen. Dann aber setzte sie sich in den Sessel am Bett. Das erste Mal hatte sie dann versucht, der Großmutter die Zeitung vorzulesen. Weil Vroni die Großmutter nicht aufregen wollte, las sie ihr nur die guten Nachrichten vor. In Kärnten war die Pleitegefahr nicht mehr so dringlich. Die 11 Milliarden Euro Schulden bei deutschen Banken und Versicherern sollten mit einem Schuldenschnitt zurückgekauft werden. Die Gläubiger schienen diesem Schuldenschnitt zugestimmt zu haben. Die Großmutter mußte unter ihren Sauerstoffschlauch lächeln. „Dann brauchen die vielleicht nicht mehr die Polizei, um Leute wie mich aus den Spitälern auszuschaffen.“ Dann las Vroni der Großmutter das Ergebnis der Volksbefragung in Ungarn vor und daß Orbán sein Ziel nicht erreicht hatte. Die Großmutter hob ihre Hand und ließ sie wieder fallen. „Da waren die Falschen faul.“ sagte sie. Dann begann Vroni den Artikel über Kolumbien und die Volksabstimmung da zu lesen. Sie wollte gleich wieder aufhören, aber die Großmutter sagte, „Weiter.“ Als Vroni dann vorgelesen hatte, daß die Volksabstimmung gegen den Friedensvertrag mit der Farc ausgegangen war, da seufzte die Großmutter. „Das ist eine Tragödie. Das ist jetzt so lange gegangen. Ich habe da einen Bericht gelesen. Von einer Französin, die von denen gefangen gehalten worden war. Das war genauso wie die Berichte von den Entführten in Italien. Aber die waren wegen des Lösegelds entführt worden und sind manchmal zurückgekommen. Aber so verändert. So verändert.“

Vroni beschloß, das mit der Zeitung zu lassen. Die Großmutter hatte noch lange „So verändert. So verändert.“ vor sich hin gesagt, und Vroni hatte Angst bekommen.

Zum Abendessen fuhr Vroni mit dem Bus zur Tante Roswitha. Die war schon immer eine Vegetarierin gewesen. Sie war deshalb von der ganzen Familie ausgelacht worden, und nur der Onkel Franz hatte zu ihr gehalten. Der Onkel Franz war ihr Halbbruder und war sonst immer den ganzen Sommer bei ihr am See gewesen. Die Tante Roswitha wohnte in einem winzigen Holzhäuschen mit einem riesigen Garten in einem Dorf am See. Die Tante machte sich große Sorgen wegen der starken Stürme, die im Herbst zu erwarten waren. Sie dachte, die hohen Fichten könnten diesen Stürmen nicht mehr standhalten und auf das Nachbargrundstück stürzen. Das Nachbargrundstück gehörte dem Bürgermeister, und der wollte einen neuen Bebauungsplan durchsetzen, damit er dieses Grundstück in Parzellen aufteilen und verkaufen könnte. Die Tante Roswitha war aber in die Gemeinderatssitzung gegangen und hatte gesagt, daß das alles korrupt sei und daß sie die Kleine Zeitung von diesen Vorgängen verständigen würde. Es hatten zwar alle Gemeinderäte gelacht und gesagt, daß die Kleine Zeitung gar nicht genug Platz habe, einen so normalen Vorgang wie eine Umwidmung zu berichten. Aber es war dann doch nichts geschehen und beim alten Bebauungsplan geblieben. Wenn aber nun eine Fichte vom Sturm auf das Nachbargrundstück geworfen würde, dann hätte der Bürgermeister wieder ein Argument gegen sie. Vroni mußte an den Satz mit dem „Ausforsten“ denken.

Der Bürgermeister regierte mit einer Koalition von ÖVP und FPÖ, und es waren nur Männer im Gemeinderat. Die Frauen trafen einander im See-Café und schimpften auf die Politik. Sie hatten der Tante Roswitha dafür gratuliert, daß sie sich in den Gemeinderat getraut und es den Männern einmal gesagt hatte. Sie könnten ja gar nichts tun oder ändern, weil das alles ihre Ehemänner waren.

Die Tante Roswitha konnte das nicht verstehen. An einem Abend fragte sie Vroni, wie das mit ihr sei. Ob die Vroni einen Freund habe. Die Vroni wußte keine Antwort. Sie erzählte der Tante die Geschichte mit dem Meran. Die Tante nickte und fragte, „Und der andere?“ Vroni schaute fragend. „Du hast das jetzt so erzählt, als wäre das schon für dich vorbei.“ sagte die Tante. Da bekam Vroni einen großen Schreck, und sie beteuerte, daß es der Meran für sie sei. Die Tante nickte nur wieder und sagte, „Such dir nur einen, der dir gut tut.“

Vroni mußte dann immer gleich nach acht Uhr aufbrechen, um zum letzten Bus zu kommen. Die Tante hätte sie mit dem Auto zurückgebracht, aber Vroni wollte das nicht. Es war schon genug, daß die Tante für sie kochte und sie sich nur zum Essen hinsetzen mußte. Manchmal griff Vroni schon mit der rechten Hand zur Gabel. Die Hand schmerzte nicht mehr bei jeder Bewegung und Vroni begann die Verletzung zu vergessen. Dann wieder begann die Hand wieder zu klopfen, und Vroni mußte die Hand ins lauwarme Wasser legen und ganz ruhig halten. Vroni saß oft lange auf einem Sessel vor dem Waschbecken und schaute ihrer Hand beim Schweben im warmen Wasser zu.

Vroni merkte, daß die Tante sich bemühte wenn sie beim Abendessen saßen, nicht auf ihre Hand zu starren. Die Hand schillerte nicht mehr so stark blau und grün und braun wie in den Tagen nach der Verletzung. Aber es waren immer noch hellgrüngelbe Schatten am Daumenballen und außen am Rand. „Willst du nicht doch lieber hier schlafen.“ fragte die Tante dann. Aber Vroni konnte sie beruhigen. Vroni wollte in der Wohnung der Großmutter schlafen. Sie wollte all die Ängste hinter sich bringen und nicht mehr bei jedem Ton vor der Wohnungstür draußen erschrecken müssen. Die Tante verstand das.

Vroni las der Großmutter dann „Anna Karenina“ vor und las die Zeitung zum Kaffee. Donald Trump hatte sich über die Veteranen lustig gemacht, die an PTSD litten. Vroni dachte nach, ob sie das nun selbst auch hatte. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr die Szene wieder ein. Wie der junge Mann sich die Schimütze hinaufschob und sie erschrocken ansah.

Vroni textete Markus, daß sie schon wieder so einen flashback gehabt hatte, und Markus textete zurück, daß er ihr helfen würde, in eine Therapie zu kommen. Ob sie ein bißchen Geld habe, um die Zeiten zu überbrücken, in denen wegen der Sparmaßnahmen die Krankenkasse die Therapie nicht übernehmen würde. Die Therapien hätten sich deshalb in Fleckerlteppiche verwandelt, und viele Leute könnten das nicht gut verkraften, nach drei Monaten gleich wieder eine Therapiepause haben zu müssen.

Dann sagte der Toni, daß er für zwei Tage nach Klagenfurt kommen könne. Da freute Vroni sich und textete dem Markus, „Bin glaube ich nur verstört. Hast du heute Dienst.“ Vronis Mutter wollte auch über das Wochenende kommen. Die Befunde der Großmutter begannen besser zu werden.

Es schien alles gut zu werden. Vroni ging in Klagenfurt und in der Umgebung viel spazieren. Die Wahlplakate waren vom Regen durchnäßt und lösten sich ab. In der Zeitung hatte Vroni gelesen, daß die FPÖ die Bestellung der Oberstrichter ändern wollte. Sie hatten begonnen, einzelne Oberstrichter anzuklagen. Die Tante Roswitha sagte dazu, „Man kann ein System immer mit sich selbst ruinieren.“

Vroni wäre am liebsten in Klagenfurt geblieben, aber Kristi textete immer wieder „Wir müssen etwas tun!“

.

1 Diese Folge ist allen Personen gewidmet, die an PTSD leiden.