Aktuell

29.09.2016

Wahlkampfroman 2016. „So wird das Leben.“ 9. Folge.

Wahlkampfroman 2016.

So wird das Leben.

Neunte Folge.1

Wieder war alles anders geworden. Vronis und Tonis Großmutter war in Klagenfurt in ihrer Wohnung gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. In Klagenfurt, das war die Mutter von ihrem Vater, der ja schon tot war.

Die Mutter mußte nach Klagenfurt fahren und alles organisieren, und weil Vroni gerade nur lernte und ohnehin überall lernen konnte, mußte sie nach Klagenfurt kommen und der Mutter helfen. Die Mutter wollte alles so schnell wie möglich regeln, damit sie nicht zu lange von ihrem Arbeitsplatz fern bleiben mußte. Es war zwar der alte Intendant gewählt worden, aber alle sagten, daß er nach dieser Wiederwahl erst recht gezwungen sein würde, alles zu ändern und sich den Umständen anzupassen.

Mit „den Umständen“ war der mögliche Sieg Höfleins bei der Wahlwiederholung gemeint. Frau Prokesch hatte gesagt, daß sich schon der Verfassungsgerichtshof mit seiner Aufhebung der Wahl nach „diesen Umständen“ gerichtet hätte. Man hätte ja auch eine Neuauszählung der Stimmen auftragen können. Frau Fischer hatte nur gelacht, und Kristi hatte gemeint, daß das alles eine große Hosenscheißerei vor den Rechten wäre.

Der Toni hatte gleich gesagt, er könnte nicht nach Klagenfurt kommen. Der Toni konnte nur in der Bibliothek vom AKH in Wien lernen. Er durfte die SIP nachholen, weil er im Juni krank gewesen war, aber es gab nur einen Prüfungstermin. Toni hätte ein Jahr seines Studiums verloren, wenn er diesen Termin versäumt hätte. Vroni mußte das einsehen. Vroni war ja schon weiter in ihrem Studium. Der Toni hatte nach zwei Jahren von Chemie auf Medizin umgesattelt, und er hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen wegen dieses Studienwechsels. Toni hatte nämlich seine Waisenpension deswegen verloren. Er betreibe sein Studium nicht ernsthaft und zielstrebig, war ihm von der Sozialversicherung vorgeworfen worden. Toni hatte nämlich immer nur die besten Noten auf alle Prüfungen auch gleich in der Medizin gehabt, aber die Mutter mußte ihn voll unterstützen. Vroni bekam ihre Waisenpension wegen des Tods des Vaters weiter, weil sie in der vorgeschriebenen Zeit weiterkam.

Vroni war dann froh, jetzt einmal aus der Wiener Wohnung wegzukommen. Die verletzte Hand war weiterhin ein Problem. Vroni konnte nur eine Umhängtasche nehmen. Einen Koffer oder einen Rucksack konnte sie mit einer Hand nicht handhaben, aber es fühlte sich leicht und frei an, so ohne Gepäck aus der Wohnung zu gehen und eine Reise anzutreten. Vroni verabschiedete sich von den Fischers. Mia brachte sie bis zum Haustor, aber sie trafen niemanden im Haus. Der Chrobath war in einer Rehaklinik im Waldviertel. Die Frau Fischer hatte ihn getroffen, als er vom Krankentransport abgeholt worden war. „Das ist das Mindeste, was dieser Staat für mich tun kann.“ hatte er Frau Fischer zugerufen. „Das ist doch nur vernünftig.“ hatte Frau Fischer geantwortet. Das stünde doch jedem und jeder zu. Da hatte der Chrobath aber wieder begonnen, gegen die Ausländer zu schreien, und sie war davongegangen.

Vroni und Toni waren jeden Sommer bei ihrer Großmutter in Klagenfurt zu Besuch gewesen. Sie waren dann im See schwimmen gewesen oder waren in die Berge gegangen. Die Großmutter war Lehrerin gewesen, und sie hatten die ganzen Ferien bei ihr sein können. Die Mutter war dann am Wochenende zu Besuch gekommen oder sie war mit dem Christoph weggefahren. „Eure Mama braucht auch ein Leben.“ hatte die Oma Gaby gesagt. Vroni hatte das seltsam gefunden. Damals hatte sie gedacht, ihre Mutter sollte bei ihrem Vater bleiben, auch wenn der schon tot war.

Vroni mußte dann zwei Wochen in Klagenfurt bleiben. Die Oma Gaby bekam gleich nach der Operation den Spitalsvirus und mußte in Quarantäne. Vroni konnte sie nicht besuchen. Sie fuhr an den See und schaute auf das Wasser hinaus. Die Touristen waren schon alle weg und Vroni hatte den Strand für sich alleine. Markus textete und berichtete, wie das mit der Anzeige weitergegangen war. Meran schickte ihr keine email-Adresse, und sie mußte darauf warten, daß er sie kurz anrief. Sie wußte von ihm nur, daß er in Chicago geblieben war. Sonst nichts. Wenn Vroni an Meran dachte, dann konnte sie sich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Aber die Hand wurde immer besser. Vroni machte so oft wie möglich die Handgymnastik im warmen Wasser im Waschbecken.

Dann läutete es an der Tür zu Oma Gabys Wohnung. Vroni fragte, wer da wäre, und jemand sagte, „Die Polizei.“ Es war früher Vormittag und Vroni war noch gar nicht angezogen. Sie trug einen Bademantel von ihrer Großmutter. Aber es war nicht deswegen, daß sie nicht aufmachen konnte. Sie hatte immer noch Angst vor Personen an ihrer Tür. Es gab keine Videoanlage, und sie konnte die Eingangstür unten im Haus nicht sehen. Vroni wußte nicht, wer da ins Haus wollte. Sie rief die Tante Roswitha an.

Die Tante Roswitha war die Halbschwester von der Oma Gaby. Die Tante Roswitha war in der Familie verschrien, und alle sagten, daß die Tante Roswitha immer alles besser wissen wolle. Vronis Mutter hatte dann einmal gesagt, daß die Tante Roswitha ja wirklich alles besser wisse. Die Tante Roswitha führte lange Kämpfe mit Ämtern und Hausverwaltungen über falsche Abrechnungen und unberechtigte Einziehungen, und sie gewann diese Auseinandersetzungen immer.

Während Vroni die Tante Roswitha anrief, läutete es, und jemand begann, gegen die Wohnungstür zu klopfen. Dann hörte Vroni die Großmutter rufen. Da war aber die Tante Roswitha schon am Telefon und befahl ihr, niemanden in die Wohnung zu lassen. „Unter keinen Umständen.“ sagte sie und daß sie gleich käme.

Vroni stand dann wieder hinter einer Wohnungstür und sprach mit den Personen draußen durch den Türspalt hindurch. Sie hatte die Kette angelassen und die Tür einen Spalt aufgemacht. Draußen standen zwei Polizisten und zwei Männer vom Samariterbund. Die Großmutter lag auf einer Bahre vor der Wohnungstür und rief immer wieder nach Vronis Mutter. Die Polizisten bedrohten Vroni. Das war den Männern vom Samariterbund peinlich, und sie gingen zum nächsten Stiegenabsatz hinunter. Vroni redete auf ihre Großmutter ein. „Mach dir keine Sorgen.“ sagte sie. „Die Roswitha wird gleich da sein.“ Vroni textete Markus und fragte ihn, was sie tun sollte. Er müsse sich als Sanitäter vom Roten Kreuz doch auskennen. Markus textete aber nicht zurück.

Es schien ewig zu dauern, bis die Tante dann endlich da war. Die Polizisten schimpften auf Vroni ein. Wie sie ihre Großmutter auf dem Gang liegen lassen könne, warfen sie ihr vor. Aber die Tante Roswitha hatte es ihr schon gleich gesagt. Wenn sie die Großmutter über die Schwelle in die Wohnung tragen ließ, dann mußten sie die Kosten für die Behandlung wegen des Spitalsvirus selber bezahlen, und das war sehr kostspielig. Weil das Land Kärnten wegen der Pleite von der Hypo-Alpe-Adria sparen mußte und weil man die Aktionärinnen der Bank nicht an den Kosten beteiligen wollte, wurde im Gesundheitswesen alles versucht, die Kosten auf die Patienten selbst abzuwälzen. Deshalb brachte man eine Patientin wie die Oma Gaby mit der Polizei nach Hause. Dann nahmen alle ihre Verwandten zurück ins Haus, und die Kosten blieben dem Land erspart.

Die Tante Roswitha kam dann und schickte ihre Schwester ins Spital zurück. Die Oma Gaby weinte, weil sie dachte, sie würde nie wieder in ihre Wohnung zurückkommen. Die Polizisten argumentierten mit der Tante. Am Ende ging der Krankentransport wieder zurück. Die Tante fuhr mit ihrer Halbschwester mit. Sie zeigte Vroni noch, wo die Oma Gaby den Kochcognac aufbewahrte und sagte, Vroni solle sich ein Glas nehmen. Man müsse harte Nerven haben gegen dieses System, sagte sie. „Und das alles verdanken wir dem Haider, und niemand sagt es.“ Dann war wieder Ruhe draußen, und die anderen Hausbewohner gingen in ihre Wohnungen zurück.

Vroni nahm sich ein Glas vom Kochcognac. Auf dem Platz mit dem Lindwurm war sie am Vortag bei einer Wahlversammlung vorbeigekommen. Es war um das Familienrecht gegangen. „Die Durchforstung des Sachverständigenwesens ist uns ein wichtiges Anliegen.“ hatte der Redner gesagt. Vroni saß am Küchentisch und nippte am Cognac. Sie schaute auf die Blumen auf dem Balkon hinaus und überlegte, wie eine Durchforstung aussehen konnte. Es fielen ihr nur große Maschinen ein, die alles beseitigten und nur die größten Bäume stehen ließen.

Dann rief Markus an, und sie erzählte ihm alles. Das gäbe es in Wien nicht, sagte er. Er habe so etwas noch nie erlebt. Dann textete Kristi. „Ich weiß, wie dein Krimineller heißt.“ schrieb sie.

1 Diese Folge ist Nahed Hattar stellvertretend für alle gewidmet, die auf der freien Rede bestehen. Nahed Hattar wurde auf dem Weg zu seiner Gerichtsverhandlung in Amman vor dem Gericht erschossen. Er war angeklagt gewesen, weil er auf facebook einen Cartoon veröffentlich hatte, in dem ein Isis-Kämpfer neben zwei Frauen sitzt und Gott aufträgt, ihm zu trinken zu bringen. Der Cartoon ist „The God of Daesh (Isis)“ betitelt.