Aktuell

09.03.2017

Unter freiem Himmel.

Für die aktuelle Ausstellung „Unter freiem Himmel. Landschaft sehen, lesen, hören.“ in der Kunsthalle Karlsruhe verfasste Marlene Streeruwitz einen Text zu Max Ernsts Gemälde „Der Wald“ von 1927.

Weiterführende Informationen zur Ausstellung hier.

Einführungsrede von Dr. Kirsten Voigt, 09.03.2017

Herzlich willkommen zur ersten Autoren-Lesung im Rahmen unserer Ausstellung „Unter freiem Himmel“ in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Herzlich willkommen, liebe Marlene Streeruwitz, die Sie die Reihe dieser Veranstaltungen heute eröffnen. Marlene Streeruwitz muss man prinzipiell nicht, und in Karlsruhe eigentlich schon gar nicht vorstellen, denn schon vor sechzehn Jahren hat man hier erkannt und gewürdigt, um was für ein „literarisches“ Kaliber – und Sie werden später hören, warum diese martialische Metapher heute ausnahmsweise einmal erlaubt sei – es sich bei dieser Autorin handelt. 2001 hat man ihr hier in Karlsruhe den Hermann Hesse-Preis verlieh – und übrigens erhielt im selben Jahr Jan Wagner den Förderpreis zum Hesse-Preis, so dass wir in dieser Ausstellung ohne diesem Umstand bei der Einladung an sie Beachtung geschenkt zu haben, also völlig unbeabsichtigt beide damaligen Preisträger nun noch einmal in Karlsruhe zumindest mit ihren Texten zusammenführen. Davor wurde Marlene Streeruwitz schon mit einigen, danach mit noch mehr Auszeichnungen als eine der künstlerisch konsequentesten, radikalsten, engagiertesten und bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen unserer Tage geehrt. Sie gehört zu jenen, die sich prinzipiell kompromisslos nicht vereinnahmen lassen, weder für Projekte, noch vom Literaturbetrieb, der Politik oder den Medien, sondern sich verweigern, auch unter Protest zurückziehen, wenn Instrumentalisierungen drohen. Wir freuen uns also umso mehr darüber, dass Sie bereit war, für „Unter freiem Himmel“ einen Text zu einem Bild unserer Sammlung zu schreiben – völlig abwegig war unser Ansinnen nicht, denn neben Slavistik studierte Marlene Streeruwitz einst auch Kunstgeschichte.

Ihre Wahl, die auf Max Ernsts Gemälde „Der Wald“ aus dem Jahr 1927, fiel, fand ich vielversprechend und spannend. Der Text, der mich einige Wochen später erreichte, war elektrisierend, weil er die Ambiguität dieses Bildes, seine schillernde Wucht in einer kongenialen essayistischen Handstreichaktion in die Entscheidungsgewalt des Betrachters übergibt und brillant vorführt, wie man ein nun genau 90 Jahre altes Werk vergegenwärtigt, fruchtbar macht für Analysen, die über es hinaus führen, sowohl systematisch als auch aus historischen Perspektiven.

„Gegenanstalten.“ heißt dieser Text. „Gegenanstalten.“ – mit einem Punkt dahinter, schon in der Überschrift. Streeruwitz-Kenner fühlen sich sofort im Bilde. Der Punkt, der etwas anhält, einen scharfen Schnitt setzt, der sich in vielen ihrer Texte so gehäuft und an unvermuteten Stellen findet: Er hat ihrem Stil, einer Spielart dieses Stils, der sich von Buch zu Buch und mitunter sogar innerhalb eines Buchs, wie im vorliegenden Fall, wandelt – denn Marlene Streeruwitz kann immer auch anders – den Ruf der Atemlosigkeit eingebracht. Viele der Protagonistinnen ihrer Texte haben Grund zur Atemlosigkeit. Sie sind, wie Yseut im aktuellen Roman, Jäger und Gejagte. Sie echauffieren sich zu Recht und mit Energie in einer Welt voller Zumutungen über diese. Sie sind gehetzt durch die Vielfalt der Ansprüche, denen sie genügen sollen. Sie sind rastlos auf der Suche, mitunter panisch. Marlene Streeruwitz beschreibt Fluchtversuche vor den Zurichtungen einer martialisch-patriarchalischen, spätkapitalistischen Gesellschaft, vor den unausgesprochenen Gräueln der Vergangenheit und ihren Spätfolgen oder vor den eigenen Niederlagen, Unzulänglichkeiten, Fehlentscheidungen und nicht zuletzt Begierden. Das verschlägt den weiblichen Heldinnen mitunter den Atem und die Sprache – treibt ihnen aber weder ihre Sehnsüchte, noch ihre Energie aus. Dass sie sich trotz allem beides bewahren, ist mitunter heroisch und grotesk zugleich. Gegen den sehr suggestiven, in der österreichischen Literatur nicht so unüblichen, bis ins Neurotisch-Larmoyante gesteigerten Hang zur Suada setzt sie mit kühler Strenge das lapidare Stakkato. Kaum eine deutschsprachige Autorin ist in der Lage, weibliche Leidenschaft mit derartiger Lakonie zu beschreiben wie sie. Den Punkt kann man da als ein Zeichen der Zerstückung und Verstümmelung lesen. Mitunter aber ist er auch der subversiv gestreute Sand im Getriebe einer von männlicher Logik dominierten Sprache als Herrschaftsinstrument.

Nach meiner Lesart fungiert der Punkt mindestens so häufig wie er ein Signum des Verlusts von Ganzheit ist, als Element der Verstärkung, nicht so sehr der Fragmentierung, sondern ganz im Gegenteil der Entschiedenheit, der Klarheit, der Courage, etwas zu konstatieren, ohne Umschweife, Neben- und Auswege oder Abschweifungen. Der Punkt versieht das vor ihm Stehende mit der Gültigkeit einer Aussage. Man muss den Mut haben sie zu treffen. Eine Aussage, wie sie ein Satz haben kann, bei Streeruwitz sie aber mitunter auch ein einziges Wort hat, das den Inhalt des Textes, ihre Lesart von Max Ernsts Bild etwa, auf den Punkt bringt: „Gegenanstalten“ – Punktum. Und auch Marlene Streeruwitz‘ Schreiben könnte man in vielen Fällen auf diesen Punkt bringen: Sie unternimmt fortgesetzt und vital künstlerische, intellektuelle Gegenanstalten, Interventionen.

Ihr Text „Gegenanstalten.“ beginnt mit einem von Friedrich II. kolportierten Zitat Scharnhorsts, der erklärt: „Eine Armee soll niemalen hinter einem Wald campiren, das ist zu gefährlich: sondern allemal vor demselben, so daß sie solchen im Rücken behält.“

Der Wald als Landschaft – hier liegt ein entscheidender Unterschied zu allen anderen Bildern und deren Interpretationen im Rahmen unserer Ausstellung „Unter freiem Himmel“ – wird unter militärischem Blick betrachtet, er wird zu einem Terrain, auf dem strategische Bewegungen stattfinden, Stellungen bezogen, Angriffe geplant werden. Der Wald Max Ernsts ist optisch, ästhetisch, physisch, sogar imaginativ uneinnehmbar. Weder Spione noch Liebespaare könnten hindurchschleichen, sich dort verbergen, erklärt uns die Autorin und attackiert damit analytisch scharf die Ambivalenz dieser Barrikaden-Komposition, die auf Romantisches und Psychisches anspielt, es aber verweigert und bis ins Herz der Ernstschen Finsternis vom Mysteriösen und projizierbaren Monströsen umstellt ist – von Erfahrung und Prophezeiung des Krieges. Und damit hat dieser Text zu Ernst – entstanden kurz nach der Abgabe der Korrekturfahnen von „Yseut“ beim Verlag – ziemlich viel mit diesem Roman zu tun.

Liebende und Spione tummeln sich auch in „Yseut“ – diesem Abenteuerroman in 37 Kapiteln, in dem eine Frau mit Pistole in der Handtasche – wenn ich mich recht erinnere, erfahren wir nichts über deren Kaliber – nach Italien reist. Männer mit Baseballschlägern huschen als schreckerregende dunkle Gestalten durch Landschaften, die uns, und auch die Heldin dieser in jeder Beziehung sehr gegenwärtigen Geschichte einst lockten. Tatsächlich wird die Szenerie, wird das Land, das früher ein Sehnsuchtstopos war, zu einer Landschaft der Verstörung, der amourösen Kalamitäten, der Wut und des Widerwärtigen. Beides kann man immer präzise nacherleben – als Frau. Beides kann einen häufig belustigen. Und dennoch: Eine Topographie im Zwielicht, in der sich häufiger Befremden als die Wahrnehmung von Anmut einstellt. Wir wohnen der Verminung eines Terrains bei, das überwacht und belagert wird – und dieses Terrain ist sowohl politische als auch Seelenlandschaft, im Grunde genau wie im Falle des Gemäldes von Max Ernst. Romantik prallt auf Zeitgeschichte, den Vorschein einer ganz nahen Zukunft – ein kalter „clash“. In „Yseut“ bewegen wir uns aber als Leser nicht nur in einem heutigen oder in naher Zukunft beobachteten Italien, sondern auch in Rückblenden durch das Leben der Hauptfigur im Wien ihrer Kindheit und den USA, in der Geschichte.

Schon mit der Eingangsszene, einer rasanten, aggressiven Episode, wie sie ein Roadmovie eröffnen könnte, werden wir mitten hineingenommen in eine Szenerie verwirrender Aggressionen und Todesbedrohungen, der sich die Heldin allein deshalb ausgesetzt sehen muss, weil sie sich im Straßenverkehr bewegt. Schon hier und nicht nur einmal in diesem Buch macht das Miteinander heftigste Gegenanstalten nötig.

In Marlene Streeruwitz‘ Ernst-Interpretation, die die grundsätzliche Ambivalenz dieses Gemäldes so klar erfasst, heißt es ganz wesentlich für unser Projekt: „Der Wald wird für Krieg oder Märchen zum angstbestätigenden Akteur. Lauern. Auflauern. Schleichen. Anschleichen. Verstecken. Überfall. Überfallen. Der Wald birgt Angreifer aller Art. Aber. Im Wald kann auch Zuflucht gefunden werden. So wird es zur Grundfrage, wo der Betrachter oder die Betrachterin des Bilds sich selbst positioniert. Es gibt ja auch die Möglichkeit, sich hinter die stählerne Palisaden zu denken und von dort geschützt aus dem Bild herauszuschauen. Vom Maler in den Bildtraum geführt. Oder. Vom Maler aus dem Bildtraum ausgeschlossen.“

Hinter dem Wald kann der Feind stehen oder man selbst – und mitunter ist man sich selbst Feind, könnte man diese Gedanken verlängern. Das nämlich passiert den Figuren in Marlene Streeruwitz‘ Texten nicht selten. Und noch einmal zitiert die Autorin Friedrich II. „Der Feind kann hinter dem Walde seine Anordnung treffen, ohne daß wir es sehen, und ohne daß wir Gegenanstalten treffen können.“

Die Frage bleibt virulent und von ihr hängt alles ab – ich zitiere Streeruwitz: „Wo werden die Anordnungen und die Gegenanstalten getroffen. Wo soll der Betrachter, die Betrachterin campieren und was muss als gefährlich angesehen werden.“

Diese Fragen gehen weit über Max Ernsts Bild hinaus und sind in Marlene Streeruwitz‘ literarischen Tableaus, Charakterstudien und in ihrer Poetologie genuin verwurzelt. Ihre Texte setzen sich mit Fragen von Macht und Manipulation auseinander und rufen Gegengestalten zu Gegenanstalten auf.

Yseut ist eine dieser Gegengestalten, ausgeliefert einerseits und zu Gegenanstalten aufgelegt. Sie liest George Gordon Byron – und dass ihr Sohn den Namen Gogo – ihr Geliebter den Namen Gio Gio trägt, ist neben vielen anderen Anspielungen auf Literatur und Film, kein Zufall. Byron, der sich unter anderem wie Yseut nach Venedig aufmachte, geistert durch die literarische Landschaft, ein Schattenmann, dessen männliche Protagonisten der weiblichen Hauptfigur von Marlene Streeruwitz nicht so unähnlich sind – auch sie ist eine Art weiblicher „Byronic Hero“ –, und vielleicht sogar eine autobiographisch gefärbte Projektion ihrer Autorin – intelligent, kämpferisch, leidenschaftlich, einsam, sensibel, rebellisch, wenn es um ihre Selbstermächtigung geht. Yseuts Name ist allein schon Provokation und hohe Ironie – sie ist keineswegs die treue Isolde – woher ihr Name rührt – die ihrem, irgendeinem Tristan liebestrunken und treu in den Tod folgt. Aber sie sucht beständig sowohl nach Freiheit als auch nach Liebe – eine ganz offensichtlich atemraubend anstrengende, lebensgefährliche Reise, ganz klar zwischen zwei Ungeheuern, Skylla und Charybdis, Liebe und Freiheit eben.