27.10.2015 · Kolumne.
Einerseits. Die Zeit geht dahin und Weihnachten kommt ins Blickfeld.
Einerseits. Die Zeit geht dahin und Weihnachten kommt ins Blickfeld. Die Vorbereitung der Vorbereitungen zumindest. Im eigenen Bereich die Mählichkeit des Täglichen. Andererseits. Draußen. Und dieses Draußen ist fast nur noch im Internet eingefangen. In diesem Bildschirm-Draußen. Da rasen die Bilder der Augenblicke aus ganz anderen Leben auf eine ein. Alle meine englischsprachigen Zeitungen gehen in ihren Internetausgaben nur noch von Bildern aus. Riesige, den Bildschirm füllende Bilder sind das. Bilder von Gesichtern. Meistens. Gesichter sind da zu sehen. Die Gesichter von Personen in außergewöhnlichen Umständen. Gesichter von Personen, die gleich nach der Aufnahme ihres Gesichts in einer Bombenexplosion umgekommen sein werden. Gesichter von Personen, die gerade vom Tod ihrer Familie erfahren haben. Gesichter von Personen, die mit Waffen bedroht werden. Gesichter von Personen, die mit Waffen drohen. Triumphierende Gesichter. Politiker, die gerade wieder die Grenzen verriegeln. In diese Bilder der Gesichter wird die jeweilige Schlagzeile mit der passenden Farbe eingeblendet. Die Schrift wird dem Bild angepaßt. Die Schrift wird der abgebildeten Realität angepaßt. Die Farbe der Schrift kommentiert dann ja nur die Abbildung und nicht die abgebildete Realität. Die ginge ja über den Rand des Bilds hinaus und ist hier nur eine in den Rahmen hineingepixelte Datenanordnung. Dieses Bild aber ersetzt die Schlagzeile und reduziert die Verschriftlichung auf die Ebene des Kommentars. Der Tausch zwischen Bild und Schrift ist endgültig gelungen. Ich kann mich noch erinnern, wie schockiert ich war, als die Neue Zürcher Zeitung Ende der 80er Jahre ein Foto auf der ersten Seite brachte. Bis dahin war da nur Text gewesen. Auf diesem Foto war ein, in einen Autoreifen hineingekauerter Mann zu sehen, von dem die Bildunterschrift berichtete, daß der Autoreifen gleich nach der Aufnahme entzündet worden war und der Mann so seinen Tod gefunden haben werde. Damals schon. Die Verwendung der Vorzukunft. Der Mann, der auf dem Bild zu sehen ist, wird gleich nach dieser Aufnahme verbrannt worden sein. Damals schon. Die Verwendung der Vorzukunft, die heute Futur II heißt und im Lateinunterricht Perfekt Futur genannt wurde. Die Verwendung des Perfekt Futur in der Bildunterschrift war die grammatikalische Erfassung des Vorgangs. Während die Person auf dem Foto noch lebt. In Todesangst, aber lebt. Das Bild ist so grammatikalisch eine Gegenwart. In der Bildunterschrift zeigt uns das Perfekt Futur die vollendete Zukunft dieser Person als Toter an. Damals. Die Verknüpfung der bildlichen Gegenwart mit der vollendeten Zukunft der Bildunterschrift. Der Adressat einer solchen Information wird zwischen der Grammatik des ewig gegenwärtigen Bildsehens und der Grammatik des verschriftlichten Berichts festgezwängt. Die emotionale Gegenwart des Bildsehens und die vollendeten Tatsachen des schriftlichen Kommentars erlauben keinerlei Weiterbewegung. Es muß ja alle Empfindung in die Bildwahrnehmung investiert werden, um so aus der Bildgegenwart eine eigene Gegenwart zu konstruieren, um das Bild entschlüsseln zu können. Im Schrifttext ist die Zeit der Erzählung abgelaufen, ohne daß die Erzählung erzählt worden ist. Es ist Manipulation. Zwei unterschiedliche Grammatiken so selbstverständlich miteinander zu verschränken. Information ist das jedenfalls nicht. Es ist ein osmotischer Prozess, der einer da abverlangt wird. Dieses Ineinandergleiten der Zeiten, die nicht miteinander verglichen werden dürften. Ein Ineinandergleiten ist das, daß das Lesen von Text zu einer lästigen Notwendigkeit vermindert. Es werden dann auch nur noch Promis vorgeführt, deren Namen nicht einmal mehr gelesen werden müssen. Und. Es ist nur noch Sympathie und Antipathie, die beim Anklicken der Bilder regieren. Interesse und Neugier sind stillgestellt. Argumente stören. Und so. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Zeitungsabonnements wieder zu erneuern. In den Druckversionen ist der Text immer noch die Hauptsache. Und. Weil ich also kein Bildjunkie werden will, muß ich einen Schritt ins Regressive machen. Aber anders ist die longue durée des Zeitunglesens als Informationserwerb nicht möglich. Und darum geht es. Um die wunderbare longue durée des Lesens.