02.10.2017 · Rede.
Festrede anlässlich der Jubiläumsfeier der ÖGPB.
Die Autorin und Regisseurin Marlene Streeruwitz hielt den Hauptvortrag bei der Feier anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB).
Zitat aus Der Standard. 4. September 2017. 11.34 Uhr.
„London – Großbritanniens Königshaus erwartet Nachwuchs: Prinz William und seine Frau Kate werden zum dritten Mal Eltern. Das verlautbarte der Palast am Montag in einer Aussendung: „Der Herzog und die Herzogin von Cambridge freuen sich, dass die Herzogin von Cambridge ihr drittes Kind erwartet.“ Die Queen und die beiden Familien der Eltern sind „hocherfreut“ über die Neuigkeit. Kate leidet – wie bei den vorhergegangenen Schwangerschaften – unter Morgenübelkeit. Ein Termin am Montag wurde abgesagt.“
Zitatende.
Heuer. Im April 2017. Die britische Regierung unter Teresa May reformierte die „Child Tax Credits“. Mit diesem Gesetz schaffte die konservative Regierung alle steuerliche Absetzung und alle anderen Unterstützungsformen für jedes dritte Kind einer Frau ab. Seit diesem Gesetz kann eine Frau ein drittes Kind nur dann steuerlich einbringen oder benefits für dieses Kind beanspruchen, wenn sie nachweisen kann, daß sie mit diesem dritten Kind unter Zwang schwanger geworden ist. Die Frau muß in einer 8 Seiten langen „rape assessment form“ beweisen können, daß sie in einer mißbräuchlichen und gewalttätigen Beziehung mit dem Vater dieses dritten Kinds lebte. Sie muß also beweisen, daß sie unter Nötigung schwanger wurde. Würde diese Frau mit dem Vater des Kinds weiter zusammenleben wollen, verlöre sie alle Möglichkeiten der Unterstützung.
Was ich nicht herausfinden konnte, das ist die Frage, ob das dritte Kind eines Manns ebenfalls unter diese Beschränkung fiele. Da, erklärte man mir, da gäbe es keine Gefahr. „There is no danger of that.“ sagte die Anwältin, die mir das Gesetz erklärte. In Großbritannien kann immer nur eine Person die benefits, also die Unterstützung, für das Kind in Anspruch nehmen. Es gilt kein Familienprinzip. Aber. Ein Mann könnte 15 Kinder haben, die er jeweils über die Mütter zu je zwei Kindern die benefits kassieren läßt. Eine Frau kann sich ab dem dritten Kind das Kind nur leisten, wenn sie das kann. Oder. Sie muß sich wieder in die volle Abhängigkeit von einem Partner oder einer Partnerin begeben.
Und ja. Child benefit in Großbritannien. Das sind 20 Pfund und 70 Cent für das erste Kind und 13 Pfund und 70 Cent für das zweite Kind in der Woche. Zur Zeit wären das umgerechnet 23,37 oder 15,47 Euro wöchentlich. Steuervorteile für Kinder gibt es nur für Jahreseinkommen unter 50.000 Pfund.
Das Jahresdurchschnittsgehalt liegt in Großbritannien etwas unter 30.000 Pfund.
Eine Gesetzesänderung dieser Art. – Es gab einen Stichtag, nach dem die dritten Kinder vom Staat nicht mehr anerkannt wurden. – Eine Gesetzesänderung dieser Art betrifft also sehr große Teile der Bevölkerung.
Ein drittes Kind. Unter den immer enger werdenden finanziellen Umständen dieser Familien. Ein drittes Kind. Es würde um einen Schritt weiter in das beschränkende Leben am Rand der finanziellen Möglichkeiten führen. Die persönlichen Schulden der wenigverdienenden Schichten Großbritanniens sind auf einem Höchststand. Es wird Geld aufgenommen, um das tägliche Leben zu finanzieren. Eine, durch diese nicht einbringbaren Schulden ausgelöste, nächste Finanzkrise wird nicht einmal mehr erwartet sondern bereits diskutiert. Aber.
Mit der staatlichen Akzeptanz auf je zwei Kinder pro Frau. Der Staat zensuriert die Familien. Zensuriert auf diese Weise Frauenleben. Es wird ja nicht nur das dritte Kind als eine Art Luxus dargestellt. Nein. Viel grundlegender. Es geht um weitere Veranderungen.
Gegen die Unterschichten verschiedener Art wird die Sexualisierung als „sich wild vermehrende Horde“ eingesetzt.
Denn. Ein staatlich anerkanntes drittes Kind muß ja von der Frau als Ergebnis einer „abusive, under ongoing control or coercion by the other parent of the child.“ deklariert werden. Ein Unterschichtmann. Ein migrantischer Mann. Ein orientalischer Mann. Eine Männerkonstruktion wird auf bürokratische Weise aktenkundig, deren Beitrag zur Gesellschaft durch dieses „rape assessment“ formalisiert wird. Und. Ganz deutlich ist das Gesetz als Signal an diese Unterschichten gedacht, wenn gesagt wird; „people on benefits should make the same choices as those supporting themselves solely through work.“
Das Recht auf Familie wird je nach Klasse, Vermögen und ethnischer Zugehörigkeit erteilt. Oder verweigert. Die Lüge, daß die Reichen für sich selber sorgten und alle anderen seien parasitisch. Diese Lüge wird einmal mehr verbreitet und in biologistische Geschlechterrollen altmodischneu zusammengepreßt.
Sozialschmarotzern und vor allem Sozialschmarotzerinnen ist die Tür gewiesen. Die Politik sozialer Vernachlässigung wie sie die Brexitbefürworter vor allem in England durchgesetzt sehen wollen. Diese soziale Vernachlässigung ist bedrängende und explosive Gegenwart.
Zitatanfang.
„Überraschung! Prinzessin Charlotte zieht mit Mama Kate, Papa William und Brüderchen George in die britische Hauptstadt. Und das hat einen ganz bestimmten Grund….
Der Kensington Palast verkündet auf seinem Twitter-Account die freudige Nachricht, die man schon so lange erwartet hatte. Prinz William (34) und Herzogin Kate (35) ziehen mit ihren beiden Kindern nach London. Umzug in den Palast? Noch wohnt die royale Klein-Familie auf ihren Anwesen in der englischen Grafschaft. Norfolk….“
Zitatende.
So steht es in der Bunten. Die Bunte. Das ist ein Wochenmagazin in Deutschland und in Österreich. Im mission statement gibt der Bunte Entertainment Verlag „Leidenschaft für Menschen“ an . Die Auflage der Bunten beträgt 2.6 Millionen Stück und die Reichweite umfaßt etwa 11 Millionen Leserinnen und Leser. Eine einseitige farbige Werbeeinschaltung in Der Bunten kostet 37.300,- Euro.
Im österreichischen Magazin Seitenblicke steht zur Nachricht, daß der Herzog von Cambridge ein drittes Kind erwartet: „3. Baby. Kate will Hausgeburt. George und Charlotte kamen im Krankenhaus zur Welt, jetzt will Kate zu Hause bleiben.“ Zitatende. Das ist ein Artikel vom 12. September.
Das Magazin Seitenblicke. Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz hat gemeinsam mit dem ehemaligen Motocross-Rennfahrer Heinz Kinigadner und Ex-KTM-Vorstand Markus Stauder die Mehrheit an der Seitenblicke Verlagsgesellschaft übernommen. Nachdem sich Mateschitz bereits vor über einem Jahr mit 9,5 Prozent eingekauft hatte, haben er und seine Partner ihre Anteile nun auf 60 Prozent aufgestockt. Die Auflage des Magazins beträgt 101.000 Stück und richtet sich an TV-Liebhaber und society- und events-fans. Eine Seite Werbung kostet zwischen 21.000,- und 30.000,- Euro.
Nun. Die Realität in Großbritannien. Die Frühgeburtssterblichkeit ist in Großbritannien 13 mal höher als etwa in Schweden. Das wird nicht auf medizinische Mängel zurückgeführt. Das beruht auf den Folgen der sozialen Ungleichheit der britischen Gesellschaft. Wie schon im 19.Jahrhundert geht es für Mütter und Neugeborene vor allem um Fragen der Ernährung und Hygiene.
Nun. Die offene Vernachlässigung ganzer Schichten ist seit Margaret Thatcher vorgelegtes Programm. Systemische Problembewältigung sieht im Fall der Child Tax Credits für das dritte Kind so aus: In Großbritannien kann in den ersten 6 Monaten der Schwangerschaft abgetrieben werden. Es wird jede 5. Schwangerschaft durch Abtreibung beendet. Der staatliche Gesundheitsdienst übernimmt die Kosten.
Es geht immer ums Leben. Und. Es geht immer um das Blut der anderen.
In der politischen Gebildetheit, in der die beiden Nachrichten. Also die Nachricht von der Gesetzesänderung der Child Tax Credits, in der das dritte Kind vom Staat nicht mehr anerkannt wird. Und der Nachricht vom 3. Kind des Herzogs von Cambridge, der Zweiter in der Thronfolge des Köngreichs Großbritannien ist. In der politischen Gebildetheit, in der diese beiden Nachrichten nicht aufeinander bezogen werden. In dieser politischen Zugerichtetheit wird die beabsichtigte Vernachlässigung je neu hergestellt. Eine politische Zugerichtetheit ist das, in der sich die Mitteilung über das Königshaus parasitär in der darüber informierten Person einnistet. Die Person verfügt über diese Information zur Vervollständigung ihrer eigenen Vorstellung von der Veranderung bestimmter sozialer Schichten, ohne diese Schichten denken zu müssen. Im märchenhaft gedachten Familienleben der königlichen Familie wird ein oben konstruiert, das den gesamten Denkhorizont ausfüllt. Alles, was nicht in diesem Himmel enthalten ist, bleibt wörtlich im Dunkeln. Die so denkfühlende Person ist von sozialen Überlegungen befreit erfreut. Befriedigt. Jede Wirklichkeit muß ausgeblendet werden. Auch die eigene. Die königliche Familie. Die königlichen Familien. Es ist ja eine Informationsindustrie, die mit den verschiedenen Königshäusern Europas ihren Profit erzielt.
Und. In keinem der unzähligen Berichte in allen Medien Österreichs wird über diese Paradoxon der eigentlichen britischen Situation berichtet. Die Informationen über das Königshaus sind schon von vorneherein von allen anderen politischen Fragen wegzensuriert. Und das auch in jenen Medien, die sich selbst als differenziert ansehen wollen.
Diese so selbstverständliche Form der Hofberichterstattung erfüllt damit alle Kriterien von Unterhaltungsprodukten. Diese Unterhaltung behauptet, affirmiert und rechtfertigt. Politische Berichterstattung – und was ist an einer solch Nachricht des Dynastischen nicht politisch – Politische Berichterstattung müßte beweisen, zweifeln und deuten.
Hinter solcher Unterrhaltung können die zerstörerischen Sozialstrukturen gut verborgen bleiben. Solche Unterhaltung kostet dann 614 Kindern von je 100.000 in den ersten fünf Lebensjahren das Leben. Davon sterben 183 nach einer Frühgeburt. Insgesamt sind das an die 6000 Kinder. Tote Kinder sind das. Und alles Elend und Herzeleid.
Den Lesern und Leserinnen oder den followern auf twitter solcher Unterhaltung. Könnten wir sagen, daß es sich um fehlende Bildung handelt. Um fehlende politische Bildung. Wenn so viel Personen so selbstverständlich Geld dafür ausgeben, sich dieser Unterhaltung hinzugeben und damit den Vorhang vor die Realität ziehen helfen.
Es geht immer ums Leben. Und. Es geht immer um das Blut der anderen. Auch beim Durchblättern von Illustrierten.
Obwohl. Erst seit etwa 10 Jahen bräuchte es die Schutzumschläge für diese Art der Illustrierten nicht mehr. Männer wie Frauen greifen nach diesen Blättern. Hier ist der Ausgleich in der Geschlechterfrage durchaus zu finden. Es ist das Vorhangvorziehen vor die Realität heute mit deutlich weniger Scham verbunden als noch in den 90er Jahren.
Würde es genügen, die Verbindung zwischen dem dritten kind eines Herrscherhauses und dem Gesetz gegen dritte Kinder in der Bevölkerung herzustellen. Würde dann etwas über Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft gewußt werden können.
Nun. Zumindest würde die Affirmation gehoben werden, die in den Medienberichten enthalten ist. Das gälte für Österreich und Deutschland und auch Italien und Frankreich. Und auch da wieder in allen Medien. Aber. Ich bin sicher, daß die Verbindung der beiden Informationen sowohl inhaltlich wie fomal nicht einmal gelingen würde.
Das hätte doch nichts miteinander zu tun, würde gesagt werden. Und daß Königsfamilien doch schließlich machen könnten, was sie wollten. Freiheit, so sollten wir dann schließen. Freiheit ist ein Besitz und wird den Besitzenden zugerechnet. Wie ja überhaupt Verben wie „verdienen“, „zustehen“ oder „Anspruch haben“ genauso wie das Wort „glauben“ in eine reale Bedeutung und in eine moralische Begründetheit geteilt werden können. Je nach Kommunikationsbeteiligung wird dann jeweils die eine oder die andere Bedeutung aktiviert.
Auf diese Weise „verdient“ es dann ein Herzog in den Palast zu ziehen und die Herzogin hat „den Anspruch“, sich eine Hausgeburt zu wünschen. Denn. Während die Durchschnittsfamilie, die etwa 30.000 Pfund zu Verfügung hat, für das Wohnen an die 18.000 Pfund ausgeben muß und für das dirtte Kind die 13,70 Pfund oder die Steuerabschreibung nicht mehr bekommt, „steht“ es der herzöglichen Familie zu, nach London in eine Wohnung im Kensington Palast zu übersiedeln. Auf Kosten der Steuerzahler.
Übrigens. Das mit dem Kind in der Köngisfamilie. Die Mutter dieses dritten Kinds spielt als Gebärerin keine Rolle. Aber. Dieses Kind. Dieses dritte Kind. Das in allen anderen Familien vom Staat ignoriert werden wird. Dieses dritte Kind wird in die Thronfolge aufgenommen werden und an die fünfte Stelle rücken. Einem Prinzip der Gleichheit folgend, wäre es rechtens, auch diesem dritten Kind alle Privilegien zu nehmen und es zu ignorieren.
Illustrierte. Yellow press. In Großbritannien hat diese Art der Medien eine sehr lange und politikentscheidende Tradition. Und. Diese ungeheure Wirkungsmacht konnt in die bildgebenden Medien weitergeführt werden. Yellow press lesen. Das war einmal stigmatisiert. Damit ist es vorbei. Das Selbstbewußtsein der Selbstermächtigung auch oder vor allem durch diese Medien hat zum offenen Konsum aller Arten von Illustrierten und reality tv shows geführt. Die Medien der Entpolitisierung konnten ebendiese Entpolitisierung für sich als Marketingstrategie geltend machen. Und. Die kleine Schamlosigkeit im Konsumieren der Illustrierten oder der reality tv show. Die beruht nicht auf einer schelmischen Selbsterkenntnis, solchem Kitsch verfallen zu sein. Nein. Es geht ja doch um Hinaufschauen auf ein Oben, das unverrückbar sicher scheinen muß und von niemandem angegriffen werden darf.
Dieses „verdienen“. Dieses „es steht zu“. Dieses „etwas glauben oder an etwas glauben.“ Hierzulande. Spätestens beim großen Vorstoß Jörg Haiders 1999 wurde es deutlich, daß die Vereinbarung der Deckungsgleiche von Zeichen und Bedeutung in der politischen Rede wieder aufgegeben worden war.
Das mühsam ausgeglichene und ja auch nur hinter geschlossenen Türen praktizierbare und von den Alliierten erzwungene demokratische Sprechen in der österreichischen Politik nach dem Staatsvertrag wurde von Haider zur anzugreifenden, weil etablierten Kriegsverliererinstitution erklärt.
Demokratisches Sprechen. Eine enthierarchisierte Grammatik und eine Lexikalik der Eindeutigkeit wäre die Voraussetzung. Eine solche Grammatik und Lexikalik sind die Voraussetzung, die notwendige Vieldeutigkeit im Demokratischen erst ausdrücken zu können. Und. Die Metapher und die Gattungsnamen sind aufzugeben.
Das bedeutet nichts anderes, als alle predigtsprachlichen und biblisch-lyrischen Redeformen aufzugeben. Denn. So lange Phrasen wie „den Stall ausmisten“ oder „Mißgeburt“ auf politische Situationen angewendet werden. So lange werden kulturell angelegte Einschlüsse metaphysischer Erinnerungen angesprochen. Großes. Hehres. Universelles. Übermenschliches. Metaphysische Auserwähltheit. Göttliches. Gottähnliches. Führungsbestimmung. Helden. Verworfenheit. Verdammnis. Verdiente Verurteilung. Mißgeburten. Am Ende. In der Postmoderne kommt unvermeidlich „white male supremacy“ heraus.
Es geht immer ums Leben. Und. Es geht immer um das Blut der anderen. Die anderen, das sind die, die mittel Metapher und kollektiver Bezeichnungen als minderwertig eingestuft werden können, ohne daß es überhaupt direkt gesagt werden muß. Eine subliminale Verabredung auf die Deutung einer solchen Sprache hält die antidemokratischen Inhalte stets bereit.
Gerade wieder. Im deutschen Wahlkampf. Die freie Rede wird für diese Art von antidemokratischem Sprechen reklamiert und eine political correctness dann noch als Hindernis für diese entkoppelte freie Rede angegeben.
Da bleibt nichts anderes übrig, als die Übersetzungsarbeit zu leisten und zu übersetzen, was es bedeutet, wenn die Gendersprechweise angegriffen wird. Es ist langweilig, immer und immer wieder nachweisen zu müssen, daß der oder die, die nicht genannt werden, nicht existieren. Mit allem an Auslöschung was das bedeutet.
Ein Beispiel.
„Wir sind ein gäriger Haufen und jetzt ist jemand obergärig geworden.“ sagt Gauland zum Auszug von Frauke Petry aus der Fraktion der AfD. Nach der Wahl in Deutschland. Vor einer Woche.
Gärig. Das bedeutet durch Gärung ungenießbar geworden. Ein Vorgang des Kelterns ist das. Eine Naturmetapher. Biblisch. Gemeint hat Gauland sicherlich, daß dieser Haufen, als der er seine politische Gruppe bezeichnet, in Aufregung und Umbruch ist. In Verwandlung. Daß noch nicht klar ist, was die gekelterte Substanz dann darstellen wird. Gesagt hat er, daß sie alle verdorben wären. Daß jemand obergärig geworden ist, das bedeutet wörtlich nun das genaue Gegenteil von dem, was zu interpretieren ist. Obergärig heißt bei niedriger Temperatur gärend und nach oben steigend. Es gibt obergärige Hefe und obergäriges Bier. Die nun ausgeschiedenen Frauke Petry hat im wörtlichen Sinn die Bedeutung von etwas Gelungenem. Von einem gelungenen Verfahren. Wieder ermöglicht der Rückgriff auf biblische Metaphern aus der Kelterei einen unrichtigen Gebrauch. Die ausgeschiedene Person ist aufgestiegen. Ausgestiegen. Ausgeschieden. Der gärige Haufen. Der wörtlich durch Gärung ungenießbar gewordene Haufen ist von der obergärigen Person befreit. So sollen wir das verstehen und so wird das dann ja auch verstanden werden.
Aber. Übersetzen reicht nicht. Es muß einen Raum geben, in dem die Erkenntnisse aus solchen Verfahren durchgearbeitet werden können.
Wir leben in einer postkatholischen Kultur, in der die Exegese dominiert. Verkündigung ist das Mittel dieser Kultur und die bildgebenden Medien erlauben dieser Kultur weiterzuwirken. Die einzelne Person steht dieser Verkündigung gegenüber. Das ist mittels der sozialen Medien sicher nicht mehr so frontal wie das noch in den 90er Jahren gewesen war. Aber. Es gibt keinen öffentlichen Raum, in dem Erkenntnis in Gemeinschaft erfolgen könnte. Wie schon in der Kirche steht jede Person für sich und verbirgt ihre Gedanken in ihrem Inneren. Kann ihr Innerstes verbergen. Sie ist ja höchstens in der geheimen Beichte Rechenschaft schuldig. Niemand muß sich öffentlich erklären. Jemand könnte in Österreich ein ganzes Leben verbringen ohne je bekanntgeben zu müssen, welchem Konzept sein oder ihr Leben nun folgte. Das geht in anderen Kulturen nicht, in denen die Haltung zur Welt schon in ersten Gesprächen abgefragt wird oder die Bekanntgabe dieser Haltung Voraussetzung für die Teilnahme an Gesellschaft ist. Und in Österreich. Es wäre selbstverständlich nur für erkennbare Hiesige eine Möglichkeit. Migranten und Migrantinnen würden einer genauen Abfrage ihrer Herkunft und Weltanschauung unterzogen werden.
Nun. Politische Bildung bedeutete, Formen zu finden, die politische Erkenntnis ermöglichen, die durchgearbeitet dann ertragen werden kann. Formales Wissen über die Zusammenhänge. Das ist eine Selbstverständlichkeit und sollte sich im Rahmen von Projektunterricht ganz von alleine ergeben. Das Schwierige ist doch, die persönlichen Möglichkeiten zu überschreiten und einer Selbstveranderung Platz zu machen, die eine Einsicht in das Leben der anderen ermöglichte. Es ginge darum, zu wissen, was es heißt, daß es ums Leben geht. Und eben um das eigene im Zusammenhang mit den anderen Leben. Zu wissen, was es heißt, das Blut der anderen zu vergießen. Und wie das einen oder eine selber betrifft.
Ich denke, daß theatrale Anordnungen einen solchen Weg ermöglichten. Seit 2000 schlage ich vor, daß Politiker und Politikerinnen die Gesetze, die sie beschließen, zuvor in Szenen durchspielen sollten.
Ich selbst.
Während der Arbeit in einem theatralen Deutschkurs für Asylbewerber und Asylbewerberinnen. Es wurde eine Szene gespielt, in der die Schauspielerin und der Sprachschüler in einer Straßenbahn fuhren und ins Reden kamen. Der Sprachschüler. Ein Asylbewerber aus Nigeria.
Er erzählte der Schauspielerin als Straßenbahnbenutzerin auf deutsch davon, daß er immer von der Schule mit der Straßenbahn nach Hause fuhr und danach seine Mutter mit ihm die Hausaufgaben machte. Zunächst. Es stellte sich heraus, daß in solchen szenischen Anordnungen das Deutschsprechen sehr viel reicher und ausdrucksvoller war als in einer schulischen Unterrichtsanordnung. Oder gar bei Prüfungen. Und ich. Diese kleine Alltagserzählung brachte die Situation des Asylbewerbers in so viel klarerer Form zum Vorschein als ich es mir selbst bis dahin klargemacht hatte. Ich weiß, daß ich seit diesem kleinen Erlebnis die Personen jeweils in einer Ganzheit imaginieren kann, die sich mir in diesem Hausaufgabenmachen mit der Mutter erzählt hat. Meine Vorstellung ist nicht mehr nur formalrechtlich. Meine Vorstellung hat Inhalt bekommen. Leben. Eben. Ich war über die erzählte Szenerie in der theatralen Anordnung in die erzählte Szenerie geraten. Eine quasi-körperliche Erfahrung war das.
Denn. Es geht um den Körper. In allen Bildungsfragen geht es um den Körper als Repräsentant des Unbewußten. Im Fall der gespielten Szene im Deutschkurs war mein Körperwissen ins Spiel gekommen. Meine, den Körper einbeziehende Erinnerung, wie es ist, als Schüler oder Schülerin mit der Mutter am Tisch zu sitzen und die Hausaufgaben zu erledigen. Und. Als Mutter weiß ich wie es sich anfühlt, mit den Kindern am Tisch zu sitzen und die Hausaufgaben zu machen. Und. Weil es ja immer ums Leben geht, spielt der Körper die Hauptrolle. Was dem Körper aus welchen Gründen auch immer nicht möglich ist, kann der Geist nicht meistern.
Heite. Wir müssen auf den Holocaust zurückblicken. Und wir haben auch die Geschichte der Holocaustaufarbeitung zur Verfügung. Wir wissen, daß eine solche schockierende Information nur zugänglich gemacht werden kann, wenn kein Trauma zugefügt wird, das wiederum nur Abwehr oder Verdrängung auslösen müßte.
Es muß also gelernt – und daher auch gelehrt – werden, wie mit Geschichte so zu verfahren ist, daß nicht eine Abkapselung dieses Wissen vom eigenen Körper notwendig ist. Und. Das einfache Versetzen in Geschichtssituationen erscheint mir auch nicht hilfreich. Ich erinnere an Kunstprojekte der 80er Jahre, bei denen wir in Viehwaggons gesperrt wurden und zwischen Orten im Dunkeln gelassen hin und her gefahren wurden. Großer Jammer und schnelles Vergessen waren die Folge. Solidarität mit den Opfern nicht. Sofort wurde verglichen, wie Personen das „gemeistert“ hätten. Wie überhaupt. Vergleiche als metaphorisches Mittel in keiner Weise zu politischer Bildung geeignet sind. Erspielte Erfahrung könnte dazu helfen, die eigenen Beschränktheiten zu überwinden. Erspielte Erfahrung. Je der Person überlassen und in Gruppen aufgehoben. Und in demokratischer Sprache gesprochen. Die einzelne Person sollte imstande sein, über sich selbst in der Annäherung an politisches Wissen zu verfügen.
Vor drei Jahren. In Stockholm. Es ging um die Bezahlung von Hilfskräften in den Küchen von Gourmetrestaurants. Diese Hilfskräfte stammten alle ursprünglich aus Afrika. Es war bekannt geworden, daß ein Stundenlohn weit unter dem vorgeschriebenen Mindestlohn bezahlt wurde und die Arbeitskräfte nicht angemeldet worden waren. In einem Fall war herausgekommen, daß die Hilfskräfte überhaupt nur noch für ein Abendessen arbeiteten. In dieser Situation gingen pensionierte Gewerkschaftsmitglieder zu diesen Restaurants und bildeten einen Spalier, durch den die Gäste durchgehen mußten, um zum Eingang des Restaurants zu gelangen. Diese pensionierten Gewerkschafter standen bis zur Sperrstunde vor diesen Lokalen. Die Restaurantbetreiber waren wütend. Die Hilfskräfte waren wütend. Die Restaurantbesucher waren wütend. Die Gewerkschafter standen da. Hielten Plakate, die auf die Arbeitsverfassung hinwiesen. In gewisser Weise war auch das eine Inszenierung. Gegen die Wut aller Beteiligten wurde das Recht auf gerechte Entlohnung und Sozialversicherung aufrechterhalten. Es gab kleine Raufereien. Zwischen den Hilfskräften und den Gewerkschaftern. Zwischen Gästen und den Gerwerkschaftern. Am Ende wurde der Stundenlohn erhöht und die Anmeldepflicht der Hilfskräfte eingehalten. Diese Aktion hätte nicht anders stattfinden können. Die Situation der afrikanischen Hilfskräfte war viel zu prekär in alle Richtungen, ihnen die Möglichkeit einer Gegenwehr einzuräumen. Die pensionierten Gewerkschafter hatten nun überhaupt nichts mehr an bösen Folgen für sich zu erwarten. Dieses Kapital setzten sie für ihre hilflosen Kollegen ein. Und. Eine Lektion war erteilt. Und. So wie ich gingen viele Personen zu diesen Streikspalieren und schauten sich das an. Auch so kann politische Bildung aussehen. Ich war jedenfalls tief beeindruckt. Solidarität war kurz eine reale Substanz aus der Sprache dieser Inszenierung.
Das demokratische Sprechen. Imgrund wissen wir noch gar nichts davon. Wir haben vielleicht die allersten Schritte in diese Richtung gemacht. Die Moderne und die Avantgarden haben sich vorgewagt und gegen den metaphysischen Sprachgebrauch des Christlichen und Postchristlichen ihre Sprechformen eingesetzt. Das war ein Kampf. Das ist ein Kampf. Dieser Kampf kann nur in Anerkennung einer Vieldisziplinarität stattfinden. Dieser Kampf muß gegen die andemokratisierten Formen aller Kritik geführt werden. So kann ein Kunst- und Kulturverständnis, das sich aus persönlichem Geschmack herleitet nicht akzeptiert werden. Sie kennen diese allumfassenden Aussagen wie „das taugt nichts.“ „das muß man gesehen haben.“ „das ist wichtig.“, wobei die Beurteilung aus den persönlichen und nie befragten Prägungen der Person stammen. So werden die alten Aufträge weitergeschleppt und der Weg zum Demokratischen wird einmal mehr verriegelt. Unbewußt so. Ungewußt.
Und. Die Bewegung auf demokratisches Sprechen zu ist notwendiger denn je. Denn. Wir müssen uns bewußt sein, daß es derzeit in allen Ländern Europas – und bleiben wir einmal in Europa -Bestrebungen gibt, eine Situation zunächst sprachlich vorzubereiten, aus der heraus wieder getötet werden kann. Anonym und staatlich berechtigt. Die Duldung des Todes anderer. Die ist schon jetzt systemisch. Die Durchführung der Tat. Die wird gerade vorbereitet. In der Veranderung großer Gruppen und im Entziehen von Grundrechten liegt der Beginn davon. In der Rückkehr zu Geburtsrechten wird diese Entwicklung vorangetrieben. Im Auslösen kollektiver Gewalt, in deren Schatten das Morden dann wieder erlaubt sein wird. Unbestraft so. Ungesühnt. Wir unterschätzen die Wirkung des Triumphs der Täterschaft und die Wirkung der Mär davon. Wir unterschätzen das Ausmaß sadistischer Befriedigung des Tötens in Krieg und Bürgerkrieg. Wir haben unterschätzt, wie ohne Reue die Großväter des Dritten Reichs ihre Aufträge weiterreichten.
Worum es aber vor allem geht. Es geht um politische Phantasien. Es geht um die Erhaltung der Lebendigkeit der Personen in diesen Phantasien. Und. Es geht weiterhin. Immer noch. Immer wieder gegen den Satz von Platon
philosophon plehtos adynaton einai [es ist unmöglich, dass die breite Masse philosophisch gebildet sei]
Ich sage, daß es möglich ist, daß alle politisch gebildet sind.