17.11.2004 · Text.
Was es werden muß, weil es das war.
Heldengedenken und Tag der Fahne. Da mußte man sein. Das gehörte zu den Pflichten. Wie Schule und Kirche. Und da fand es ja auch statt. Schule und Kirche war diese sich ergänzende und in dieser Ergänzung die Widersprüche transportierende Einheit. Drohend war das. Das war immer drohend. Das hatte mit langem Stehen zu tun. Die Feiern und die Messe. Stehen in der Zahl der Kinder. Still stehen. Überprüft dastehen. Nach Schulklassen geordnet von den Lehrerinnen überwacht. Ordentlich sollte da gestanden werden. Die Zweierreihe auch noch im Stehen aufrechterhalten. Und immer mußte von unten nach oben geschaut werden. Immer mußte der Blick hinauf gerichtet werden. Der Text wurde immer oben vorgesagt. Hoch oben in der Anordnung der Kirche. Der Priester auf der Kanzel. Allein und über allen. Der Politiker oben hinter dem Rednerpult. Aber immer dieselbe Redehaltung von oben nach unten. Immer die Verkündigung der Vorschrift. Die Vorschrift in gehobener Sprache. Wie man sein sollte. Wer man war. Im Archilexem wurde das verkündigt. „Man“ war da ein Kinderkörper, dem der Weg gewiesen wurde. Dem gesagt wurde, wohin er gehörte. Wie er sein sollte. Dem die Heimat benannt wurde. Und weil sich die Verkündigung immer schon auf das Verfehlte der Vergangenheit bezog. Beziehen mußte. In einer Kleinstadt der 50er Jahre, die das Hauptquartier der russischen Besatzung gewesen war, waren die Kriegsfolgen nicht zu übersehen. Reparatur war das. Zurückreparatur in das Jahr 38. Der Wiederaufbau trat mit einem trotzigen „Aber Jetzt“ auf. Aber jetzt würde man es richtig machen. Aber nicht, weil man es falsch gemacht hätte. Bis jetzt. Nein. Es war ein Schicksal, das über diese Welt gekommen war. Und es war nur der Krieg, der benannt wurde. Der Krieg war ein Schicksal gewesen. Wie eine Überschwemmung. Über den Krieg war wie über ein Naturereignis gesprochen worden. Und wie bei einem Naturereignis hatte es keinen selbstverschuldeten Grund und keine Verursachung gegeben. Krieg trat auf und raste über die Menschen hin und hinterließ Zerstörung und danach kniete man nieder und betete. Man kniete und betete und dankte für die Rettung und flehte um Schonung. Der Bürgermeister sagte in der Heldengedenkfeier, daß dieses Österreich wiedererstanden sei und dass es nie wieder Krieg geben könne und daß den Gefallenen zu danken sei. Und der Stadtpfarrer sagte in der Messe nach der Heldengedenkfeier, daß die Sünden der Menschen im Krieg bestraft würden, aber daß es jetzt Österreich gäbe und die Neutralität uns vor Krieg bewahren würde. Die Neutralität war so ein Gottesgeschenk geworden, das Rettung versprach. Die Heldengedenkfeier fand vor dem Kriegerdenkmal statt, das vor der Stadtpfarrkirche stand. Danach die Messe in der Kirche.
Die Helden waren tot. Um ein Held zu werden, hatte man sterben müssen. Im Krieg. Wenn man im Krieg für das Vaterland auf grausame Art zu Tode gekommen war, wurde man in das Heldengedenken aufgenommen. Das war nicht anders als die Märtyrer in der Kirche. Um in den erhöhten Rang eines Märtyrers zu kommen, hatte man sich für den Glauben zu Tode quälen lassen müssen. Auf die gräßlichste Weise. Aber. Die ewige Seligkeit war damit errungen. Märtyrer waren im Himmel. Märtyrer waren in ewiger Sicherheit. Helden. Die waren im Heldengedenken aufgehoben. Die waren in der Heldenehre. Im Ruhm ihres Todes für das Vaterland waren die in ewiger Erinnerung bewahrt.
Was hatte „man“ da gelernt. Im Stehen in der Kälte vor dem Kriegerdenkmal. Zuerst einmal hatte gelernt werden müssen, daß die Art des Todes über die Position des Toten bestimmte. Der richtige Tod. Die richtige Todesart in der Kirche oder im Staat ermöglichte Aufstieg. Man konnte durch die richtige Todesart eine höhere Position erreichen. In der Kirche konnte man sich durch einen Märtyrertod die ewige Seligkeit sichern. Im Staat konnte man ein Held werden. Und in beiden Fällen waren es moralische Pflichten. Das Schicksal des gräßlichen Todes als Mittel der gesellschaftlichen Erhöhung und zur Rettung der eigenen Seele war Vorschrift. Der freie Wille war da nur die Wahl zwischen Verdammnis in der Kirche und Feigheit im Staat in der Redegewalt der innigen Verbindung von Religion und Politik. Der Politiker sprach von der Verdammnis. Der Pfarrer von der Neutralität. Beide redeten von ganz anderem. Die Erwachsenen hinten. Die Erwachsenen standen immer hinter den Kindern. Damals. Alle Kinder vorne. Hinter ihnen die Aufsichtspersonen. Lehrer und Eltern. Die Erwachsenen teilten mit den Rednern gelebte Erfahrung. Für die Erwachsenen war Tod und Rettung konkret. Die Erwachsenen wußten, worüber geredet wurde. Die Erwachsenen verstanden die Sprache über Tod und Rettung konkret. Für ein Kind. Für ein Kind konnte sich nur darstellen, daß die Erwachsenen wußten, worüber gesprochen wurde. Erwachsensein wurde so zu einem Zustand eines Eingeweihtseins. Zu einer Gemeinschaft der Wissenden. Zu Wissenden über Gewalt und Schicksal. Zu Erfahrenen in Gewalt und Schicksal. Überlegen waren die in einem nur dunkel zu Erahnenden von Gewalt und Schicksal. Gewalt und Tod und Todesart und Schicksal dahin. Das wurden um dieses dunkel Ahnende gruppierte Begriffe. Angstmachend war das. Furchterregend. Und um diese Furcht zu bannen, gab es wieder nur zwei Möglichkeiten. So zu tun, als gäbe es das alles nicht. Oder gleich einstimmen und mitmachen. Märtyrer und Held wurden so zu unausweichlichen Konsequenzen. Vor diesem Denkmal stehend und dem Reden zum Heldengedenken lauschend war es unausweichlich, daß einem selbst das geschehen würde.
Und. „man“ durfte nichts von diesen Gefühlen preisgeben. Es war vollkommen unmöglich. Es wäre eine Schande gewesen, auch nur betroffen dreinzuschauen. Weinen. Das wäre entsetzlich gewesen. Weinen. Das hätte einen als kleines Mädchen ausgewiesen. Jede Reaktion hätte mich zu dem kleinen Mädchen gemacht, das ich war. Es war zwingend notwendig, regungslos diesen Reden zuzuhören. Diesem bombastischen Gerede von Tod auf dem Schlachtfeld und dem Opfer der Toten zuzuhören. Das alles auf sich beziehen zu müssen. Das alles als vorgeschrieben und unausweichlich in sich toben zu haben. Und keine Regung nach außen dringen zu lassen. Dann lachten die Buben nicht über einen und nannten einen „Mädchen“.
Es waren unerbittliche Väter, die sich da über einem versammelten. Der Gott und das Vaterland. Väter, denen es recht zu machen, die äußerste Hingabe verlangte. Der Körper wurde einem abverlangt. Und. Jeder Vater schrieb einen Tod vor, der einem Regungslosigkeit gegenüber den gräßlichsten Qualen abverlangte. Dafür dann sozialer Aufstieg. Danach. Als Nachrede. Auch das Leben im Staat wurde so an eine Jenseitsvorstellung gebunden. Das Leben wurde so entworfen, als gäbe es diese beiden Möglichkeiten als Karriereoptionen. Parallel. Wieder parallel in diesem neuen Österreich. In dem Kirche und Staat gemeinsam sprachen.
Die Kinder von damals. Die Kinder vom Tag der Fahne und den Heldengedenkfeiern der 50er Jahre. Sie halten nun selber die Reden. Werden das im nächsten Jahr tun. Sie werden diesen Ton anschlagen. Sie werden so beginnen, wie sie das damals gehört haben. Diese Stimmführung, die große Gefühle schon in der abverlangten Regungslosigkeit sagt. Ein vorwurfsvolles Pathos ist das. Ein Pathos, das alles in Verkündigung verwandelt. Die Regungslosigkeit verbietet Erklärung. Frage. Argument. Diese heute Erwachsenen werden ihren Zuhörern nicht den Heldentod abverlangen. Aber die Hingabe. Die schon. Und diese heute Erwachsenen werden nur das lesen können, was ihnen damals entschlüsselbar sein durfte. Alles, was die Erwachsenen damals als dunkle Erinnerung teilten. Das ist ihnen dunkel gebliebener Hintergrund ihres heutigen Erwachsenenseins. Ihrer Rolle als Redner. Wird Basis ihrer Erwachsenenermächtigung. Wird Basis der Macht. Und sie werden ein „Wir“ aus diesem dunklen Ahnen heraus formulieren.
Das nächste Jahr sollte der öffentlichen und privaten Kulturarbeit der Macht und der Mächtigen gewidmet werden. Öffentlich und privat.