23.10.2018 · Rede.
Was Literatur kann.
Im Rahmen des Aktionstages mitSprache der österreichischen Häuser der Literatur hielt Marlene Streeruwitz eine Grundsatzrede im Literaturhaus Wien.
Literatur. Das ist die Welt. Das ist die Welt als Sprache. Literatur ist aber nicht die Beschreibung der Welt. Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung. Das ist eine Schreibung von Welt. Das ist keine Rekonstruktion von Welt. Kein Abbild.
Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung konstruiert die Welt je neu. Das ist dann keine neue Welt.
Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung konstruiert die Welt anhand der Welt neu. Diese Konstruktion versucht eine Schreibung. Eine Weiterschreibung. Einen Gegenentwurf. Aber. Immer wird eine solche Konstruktion ein Versuch bleiben. Und immer wird ein solcher Versuch dann an der Welt zu messen sein und nicht an sich selbst. Das muß den Religionen und ihren Gründertexten überlassen bleiben. Aber. Daß es sich um Versuche der Konstruktion handelt. Das ist die Möglichkeit von Literatur. Das ist ihre erste Schönheit. Das ist ihr Sinn.
Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung. Sie muß Versuch bleiben und muß als Versuch an der Welt gemessen werden. Denn. Eben weil es sich bei Literatur wie bei jedem Text und jeder Versprachlichung nicht um die Welt in einer Abbildung handelt, sondern um ein Modell der Welt in Sprache.
Die Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung. Es gibt nur eine Annäherung in der Deckungsgleiche von Welt und Literatur. Und genau diese gegebene Inkongruenz ist das Politische der Literatur. Jeder Literatur. Jedes Texts. Jeder Versprachlichung. Denn. Die, in der Sprache hergestellte Figur von Welt hat die Fähigkeit, sich zwischen den Blick auf die Welt zu schieben. So schreibt sich die Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung in den Blick auf die Welt ein.
Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung. Die Welt, wie sie ist. Sie kann von der Literatur erhellt werden. Ausgeleuchtet. Verdunkelt. Verdeckt. Zerstückelt. Verhübscht. Verdammt. Gerettet. Sprache, als diese zweite Realität kennt ja keine Begrenzung. Im Gegensatz zum Bild und dem Gebrauch des Bilds in den Medien bleibt Sprache ja unbegrenzt. Sprache funktioniert in der Zeit. Und so wie ein Bild Raum abbildet, damit begrenzt und zur gleichen Zeit einen neuen Raum schafft, so kann die Literatur die Zeit beschreiben, der Zeit Grenzen setzen und zur gleichen Zeit die Zeit überwinden. Völlig neu herstellen. Literatur ist damit der Kampf gegen die Endlichkeit im Bericht über die Not leben zu müssen. Und in manchen Augenblicken vermag die Literatur die Welt so in Sprache zu reißen, daß eine Deckungsgleiche dieses Risses mit dem Blick des Lesers und der Leserin die Endlichkeit überwinden. Für diesen einen Augenblick. Damit ist Literatur zutiefst antimetaphysisch. Und Literatur kann keine Unendlichkeit behaupten. Aber. Das ist das Realistische an der Literatur. Für einen Augenblick eine eigene Zeit außerhalb der Zeit der Welt herzustellen. Das ist die zweite Schönheit der Literatur. Literatur. Als Erfindung des 18. Jahrhunderts. Mit dieser Literatur ist es vorbei. Das war eine Literatur, in der es Päpste gab. Und. Wir müssen diesen Päpsten des Literaturbetriebs dankbar sein, daß sie diese Literatur in Särge weggepackt haben und mit Aufschriften wie etwa „Die hundert wichtigsten Bücher der Weltliteratur“ etikettierten. Der kanonbildende Blick. Die Behauptung einer Weltliteratur. Der hierarchisierende und in diesem Selbstverständnis kolonialisierende Blick. Der auswählende und preisverteilende Blick. Ein solcher Blick stellt sich noch einmal vor die Literatur, die sich für die Zeit des Lesens vor die Welt schiebt. Ein solcher Blick kennt nur sich selbst. Teilt sich nur selbst mit. Schließt aus. Das ist kein interessierter Blick. Das ist ein Blick der Interessenslagen. Ein elitärer Blick war das. Kolonial. Rassistisch. Sexistisch. Ein Blick, der jener Literatur folgt, die die Welt erobern wollte. Die sich Sprechmacht erobert hatte. Die sich aber gerade deshalb von den Bindungen des Metaphysischen nicht zu lösen verstand. Ein Blick war das und ist das, der der Vormoderne angehört. Jenen Weltkonstruktionen, die das Diktat des Worts in Gottähnlichkeit nachstellen wollten. Nationalismen. Faschismen. Säkulare Religionen.
Nun. Literatur enthält als Werk einer Person immer die Projektionen dieser Person. Der Autorin oder des Autors. In der Möglichkeit der Zuschreibung des Werks an diese eine Person ist die Voraussetzung beschlossen, zu einem Literarischen zu kommen. Connatus und Lebensnot des oder der Einzelnen über die Instanz der Autorschaft eines Einzelnen oder einer Einzelnen vermittelt.
Denn. Literatur entstand aus dem Widerstand gegen die Übernahme des Lebens in die Totalkontrolle des bürokratischen Staats des 18. und 19. Jahrhunderts, in dem die feudale Repräsentation der Macht durch die mediale Macht der Verwaltung ersetzt wurde. Diese Unerreichbarkeit der Macht. Die französische Revolution fand gerade noch rechtzeitig in der Repräsentation des Feudalen vor dessen Verschwinden in die vage Macht der Bürokratie statt.
Die Literatur. Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Phantastische springt auf als wäre eine Leere auch in der inneren Welt zu füllen. Da, wo der Fürst war und dadurch herrschte, da ist plötzlich nichts. Für den Bürger eröffnet sich ein winziger Spalt. Raum. Spielraum. Selbstbeobachtung angeleitet durch den Kontrollstaat. Die Kontrollinstanzen, die diese Selbstbeobachtung zur Optimierung der Schulerziehung in die Personen selbst verlegte. Dieses so verwaltete und kontrollierte Selbst muß, um die Forderungen des aufgeklärten Staats zu erfüllen, einen Blick auf sich selbst werfen können. Wieder zur Kontrolle. Das verwaltete Selbst bekommt einen Blick auf sich in der Welt.
Literatur ist immer schon Beschädigtheit. Unvollkommenheit. Verzweiflung. Unterträglichkeit. Das ist die dritte Schönheit der Literatur. Denn. Sie verschafft der Bedürftigkeit und dem Begehren Zeit. Darin hat die Literatur die Aufgabe revolutionär zu sein. Und zu werden.
Denn. Wenn Literatur diese Unvollkommenheit des Selbst zugeben kann. Das wiederum kann sie nur in der Form. Denn nur wenn sie gegen das Regelsprechen und die Allmacht der Regelsprachen gerichtet ist, kann sie Einspruch erheben. Und damit den Blickenden oder die Blickende zu einem anderen Blicken bringen.
Heute. Wir wissen, daß dieser Blick gemacht ist. Daß es die Umstände des Wachsens und Werdens einer Person sind, die die Blicke grundieren. Das Gemachte am Blick auf die Welt und auf sich selbst. Das läßt uns eine Veränderbarkeit erkennen. Immer war Literatur schon die Erweiterung eines solchen Blicks. Teilnahme an Erfahrungen, die nicht gehabt werden mußten. Durchleben von Zeiten, die keine eigene Zeit kosteten. Die Teilnahme am Blick eines Autors oder einer Autorin. Lesen. Gekonnt lesen. Und gekonnt lesen heißt dem Text die Zeit zu überlassen, die in diesem Text hergestellt ist. Gekonnt lesen. Das heißt dem Autor und der Autorin als Instanz ihr Wissen über Connatus und Lebensnot zuzugestehen. Und dann erst. Nach dem Lesen den Blick heben und den Text an der Welt messen.
Und dann. Die gelungenste Form kann immer auch den Umgang mit der Welt verbergen. Aber. Nehmen wir das Beispiel, in einem Text ist eine Vergewaltigung erzählt. Nicht die Vergewaltigung ist das Problem, wie der Einspruch von den institutionellen Verwaltern der Moral in den Religionen lauten würde. Die Valenz eines solchen Ereignisses für die einzelnen Figuren in einem Text entscheidet. Diese Entscheidung darf naiv erfolgen. Wir haben keine Möglichkeit mehr, Wahrheiten zu beschwören. Aber wir können literarisch erzwungene Identifikationen mit Täterschaft ablehnen. Bei Gramsci können wir lesen, daß es darum ginge, wie ein Autor es mit seinen Figuren hielte. Ich ergänze das in aller Form für die Autorinnen und alle 35 möglichen Geschlechter. Aber. Die Frage, wie eine Autorin oder ein Autor die einzelnen Figuren in ihrem oder seinem Text konfiguriert. Das aufzuspüren. Das läßt uns die Möglichkeit, uns einem Text gegenüber fremd zu fühlen.
Das Diktum, daß Literatur immer richtig ist, weil sie zu Literatur erklärt, alle Freiheit hat. Dieses Diktum gilt nicht. Galt nie. Denn. Wenn die Literatur oder jede andere Kunst nur die Erzählung der Befreiung des Autors oder der Autorin ist. Dann lesen wir eine Schöpfungsgeschichte. Eine Wiederholung davon.
Freiheit. Sie liegt in der Form. In der Form selbst muß die Freiheit gegeben sein. Dann aber. Und darin. Die Literatur ist die einzige Möglichkeit der Allmacht der Bürokratie und der Medien zu entkommen. Literatur ist die einzige Möglichkeit, den Überlenswillen und die Lebensnot in der inneren Welt einer Figur wahrzunehmen und damit der Wahrnehmung des oder der anderen nahezukommen. So nahe wie das nur irgend möglich ist. Und so wahr eine Wahrheit sein kann. Die Zeit im literarischen Text. Sie erzählt nichts anderes als die Endlichkeit. Aber sie ist Mitteilung davon. Gemeinsamkeit darin. Und es wäre zivilisierter, wenn wir die Politik in Romanen verhandelt könnten. Schöner auch. Die gelungene Flucht auf Zeit und nicht allein. Sie ist eine weitere Schönheit der Literatur.
Grundzulegen ist dieser Ableitung jedoch das Zitat von Peter Szondi:
„(…) So wäre, damit ein neuer Stil möglich sei, die Krise nicht nur der dramatischen Form, sondern der Tradition als solcher zu lösen.“
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880 – 1950). Frankfurt am Main 1974. Seite 162