Werk.

25.08.2024 · Texte. Aller Art.

Über die soziale Frage.

25.08.2024

Über die soziale Frage.

 

„Dramatiker haben der veränderten Thematik der Gegenwart eine neue Formenwelt abgerungen – wird sie in der Zukunft Folgen haben?“[1]

Dieser, 1956 das erste Mal veröffentlichte Satz von Peter Szondi blieb und bleibt für mich die idealtypische Beschreibung der Aufgabe von Literatur. Den jeweiligen Thematiken der jeweiligen Gegenwart die jeweilige Formenwelt abringen. Mittels Literatur die Strukturbeschaffenheit des Gegenwärtigen zur Erscheinung bringen und damit besprechbar machen. Mittlerweile. Wir könnten sagen, dass die Folgen der so zu gewinnenden Erkenntnisse gering geblieben sind und mit der Auflösung der Institution Literatur noch weiter vermindert werden. Das aber würde die ja immer auch diskrete Wirkung des Literarischen übersehen, deren Notwendigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Machen wir den ersten Schritt im literarischen Blick auf die hier gewählte Thematik vieler Gegenwarten und untersuchen wir, wie das Sprechen in Bezug auf „Über die soziale Frage“ erfolgt. Und. Welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen. Und. Welche neue Formenwelt sich da eröffnete.

Bleiben wir erst einmal auf der Ebene der formalen Erbschaften einer solchen Wortgruppe wie „Über die soziale Frage“.

„Über“. Das ist eine Lokalpräposition, die aber“ bei nichtlokaler Verwendung, bei völligem Schwund der Raumvorstellung das Substantiv in den Akkusativ stellt.“[2] Und trotzdem. Es ergibt sich eine abstrakte Räumlichkeit. Die soziale Frage wird zu einer Sinneinheit, über die hinüber und hinweg nachgedacht werden kann. Über die geredet wird. Geurteilt. Die soziale Frage wird in sich ein kompaktes Ding, auf das zu schauen mit diesem „über“ sich möglich macht.

Dann tritt das Adjektiv „sozial“ auf. In den Grammatiken wird diesem Adjektiv kein Nomen zugestanden. Die Substantivierung „Sozialismus“ wurde ja im 19. Jahrhundert auf die Bezeichnung von Theoriemodellen des Gesellschaftlichen und auf die, solche Theoriemodelle vertretenden Personen und politischen Parteien und Gruppen eingegrenzt. Es wäre zu untersuchen, ob „Sozialismus“ so noch als Abstraktum gelten kann oder durch die spezifische Wortgeschichte nicht längst zu einem Konkretum geworden ist und eben Gegenständliches beschreibt wie Personen oder Staaten. Und hier. Wieder und weiter stellt sich die sehr politische Frage, ob das Wort „Staat“ als Abstraktum aufgefasst werden kann. Oder soll. Oder nicht.

Wenn aber nun Donald Trump Kamala Harris als „socialist“ beschimpfen kann und das noch in „communist“ steigert, dann benutzt er die gesamte Geschichte dieses Worts „sozial“ in der kapitalistischen Auslegung als „antisozial“ im Sinne von gesellschaftsauflösender, gesellschaftszerstörender Anordnung des Gemeinwesens. Donald Trump nimmt damit die Kalte Kriegs Rhetorik in diesem Wort wieder auf. Und. Wir werden am 4. November bei den Präsidentschaftswahlen in den USA einen begriffsgeschichtlichen Befund darüber erhalten, ob „to be social“ mit „to be a socialist“ gleichgesetzt wird und damit der Trump`schen populistischen Gleichsetzung der Bezeichnungen gefolgt wird. Oder. Ob „to be social“ als reformkapitalistisches Vorhaben der demokratischen Partei in den USA akzeptiert werden kann.

„Die soziale Frage.“ Diese Wortgruppe fügt die Beschreibung der Lebensumstände sehr vieler Personen mit Hilfe der Beifügung „sozial“ zum Wort „Frage“ zu einem Begriff zusammen. Und. So. Es ist die Beschreibung der Lebensumstände ausschließlich von Subalternen gemeint. Die Lebensumstände von Oberschichten oder Eliten. Die werden mit dem Wort „sozial“ abgetrennt und vollkommen abgesondert positioniert. Es wird, die Wirklichkeit bestätigend, für die Oberschichten und Eliten auch sprechsprachlich ein, vom Sozialen abgetrenntes Territorium errichtet. So. Es stellt sich wieder und weiter die Frage, ob die Machthabenden überhaupt zur Gesellschaft gehören oder aus einem Raum außerhalb agieren, wie sich das etwa in der Herrschaft von Königen und Kaisern und Bürokraten und Trainern und Professoren darstellt. Mir scheint, die Herrschaft der Börse etwa hat eine solche Anordnung erreicht.

Das eine Prozent der Habenden hat den Raum des Sozialen verlassen. Auch dieser Vorgang wird uns in den USA aufs Deutlichste vorgeführt. Da gibt es Milliardärinnen, die dem überkommenen WASP (White Anglo-Saxon Protestant) Ideal der charity folgend, ihr Vermögen an ihnen wichtig erscheinende Projekte abgeben. Dagegen stehen die Milliardäre oft vollkommen neu geschaffener Vermögen, die ihr Geld in Spenden an politische Parteien investieren und sich davon weitere Vorteile für diese Vermögen erwarten. Beide Vorgangsweisen beruhen aber natürlich nicht auf einer gesellschaftlich geführten Verhandlung und sind in der Nachfolge der viktorianischen Beglückungshaltung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England zu sehen. Jedenfalls gibt es durch die geltende Steuergesetzgebung nicht die kleinste Beteiligung dieser Vermögen am Sozialen. Die Besteuerung dieser Riesenvermögen ist Streitgegenstand des Wahlkampfs. Es geht wie am Ende in allem darum, dieser Gegenwart neue Formen abzuringen. Die Freistellung solcher Vermögen von sozialer Verantwortung beschreibt für Trump die Größe und Bedeutung der USA und ist für ihn in der Verfassung garantiertes Grundrecht. Wie überhaupt in diesem Wahlkampf wieder verhandelt wird, wer im Besitz der US Revolution ist, die in der Verfassung ausgedrückt ist. Wie die demokratische Partei die Rolle des Gelds am Sozialen sieht, das ist gerade noch Gegenstand interner Aushandlungen. Beim Parteitag der Demokraten vorige Woche stellte sich die Ambivalenz dazu in den Auftritten von Rednern für eine Vermögenssteuer dar, die nach den Reden von Milliardären für mildeste Formen dieser Besteuerung sprechen durften.

Nun. Im Brockhaus 1934[3] Das ist die Ausgabe des Brockhaus von 1929, der neu herausgegeben mit einem Nachtrag aus 1933 versehen ist. Ich behalte diese Ausgabe des „Handbuch des Wissens“, wie der Untertitel dieses Lexikon lautet, um mich immer daran erinnern zu müssen, wie schnell solches Wissen mittels Nachtrag gleichgeschaltet werden kann. Also. Im Brockhaus 1934 wird ohne Kommentar unter „sozialer Frage“ zu „Arbeiter“ und „Arbeiterfrage“ weitergeleitet. „Die soziale Frage“ wird mit Arbeiter und Arbeiterfrage gleichgesetzt. Die soziale Frage ist die Arbeiterfrage.

Erinnern wir uns. Geschichtlich. Aus den handelbaren Leibeigenen wird die Masse der Industriearbeiter gemacht. Diese Masse löst die soziale Frage aus. So ist Geschichtsschreibung. Nicht die Industriellen werden beschrieben, die auf die Grundbesitzer folgend, diese wirtschaftliche Bewegung zu ihrem Gewinn mittels dieser Personen vornehmen und damit die gesellschaftlichen Folgen herstellen. Die wiederum als Lebensumstände gelebt werden müssen.

 

Exkurs: In der Habsburger Monarchie ist diese Aufeinanderfolge von Grundbesitzer zu Industriellem ungebrochen und erklärt den Machterhalt der Aristokratie bis zum Ersten Weltkrieg. In der Bauernlegung 1848 wurde den Grundbesitzern der Bauerngrund abgelöst. Die Grundbesitzer bekamen zwei Drittel des Schätzwerts des Bauerngrunds ausbezahlt. Dadurch flossen große Mengen Kapitals den aristokratischen Grundbesitzern zu, die dieses Kapital nun wiederum in die Entwicklung von Industrien investieren konnten. Die Bauern waren zu Ablösezahlungen verpflichtet worden, derentwegen die Bauern sich verschuldeten und der Bauerngrund am Ende an die feudalen Grundbesitzer über nicht bezahlbare Kredite wieder zurückfiel. Gleichzeitig endete die, für die Grundbesitzer aufwendige grundherrliche Untertänigkeit und das schutzobrigkeitliche Verhältnis der Bauern zu den Grundbesitzern wie etwa die grundherrliche Gerichtsbarkeit. Es mussten in der Folge der Bauernlegung Gemeindeverwaltungen, Bezirksverwaltungen und Gerichte gegründet werden. Der Verwaltungsstaat nahm Gestalt an. Die Verantwortungen der Grundbesitzer gingen an den Staat über und mussten nun über Besteuerung aller finanziert werden. Davor mussten diese Strukturen vom Grundherrn bezahlt werden.  In Ungarn zum Beispiel blieb die Aristokratie unbesteuert. Ein Privileg, das ein wichtiges politisches Motiv im Dualismus der k.u.k. Monarchie wurde. Und. Wie wir in den USA oder im Wahlkampf in Österreich gerade heute sehen, ist das weiterhin ein politisches Motiv geblieben. Bei uns geht es um die Besteuerung von Übergewinn von bis zu 200 % der Banken. Dieser Übergewinn soll von konservativer Seite und von Rechts wie privates Vermögen behandelt werden. Es soll also außerhalb des Sozialen gestellt gesehen werden.

Und. Alle diese Handlungen und Maßnahmen. Ich würde meinen, die Geschichte insgesamt. Die Geschichte insgesamt ist die immer weiter erfolgende Antwort auf die soziale Frage. Denn. Die Antworten auf die jeweilige soziale Frage erfolgt in politischen Handlungssprachen, die wiederum jeweils die Beschaffenheit der Lebensumstände der Subalternen betreffen.

In der Geschichtsschreibung. So. Wie wir Begriffe als geschichtlich vermittelt bekommen. Die subaltern Gewesenen wurden in einer neuen Subalternität benennbar gemacht. Weiterhin. Es sind die Schicksale der ungeheuer Vielen, die als Masse bezeichnet, verhandelt werden. Das Bild vom Hirten und der Herde kommt in den Sinn. Christlicherweise. Die Schicksale der subaltern gehaltenen Personen werden in den Singular des Worts „Masse“ gestopft und einer, wieder im Singular gehaltenen „Frage“ unterschoben.

Die soziale Frage wird zu einem Begriff gemacht, in dem Subalternität die gedankliche, inhaltliche Einheit konstruiert. So formuliert. Der subaltern gedachte Begriff „sozial“ bestimmt den Sachverhalt.

Und. Fragen wir nach dem Wort „Frage“. Der, in „Frage“ erfüllte Tatbestand von Fragen verhindert das Fragen. Das Wort „Frage“ versteinert die Wortgruppe in eine voraussetzbare Antwortlosigkeit und wir finden unter diesem Titel hauptsächlich Analysen und Beschreibungen abstrakt wissenschaftlich gehaltener Umstände subalterner Leben.

Die Wortgruppe „die soziale Frage“ wurde im 19. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen. Die uns auf deutsch so unausweichlich erscheinende Anwortlosigkeit der Immanenz des Fragens in „Frage“ mag auch daher kommen, dass das französische „question“ und das englische „question“ vom lateinischen quaerare abgeleitet ist, was „suchen, untersuchen“ bedeutet. Das deutsche Fragen hat über lange Ketten des Gebrauchs mit dem lateinischen „precari“ zu tun und führt sich auf die Bedeutung „um etwas fragen. bitten“ zurück. So. Es handelt sich bei „die soziale Frage“ um eine Übernahme der Worte und keine Übersetzung des Bezeichneten. Was wie so oft fragwürdig wäre im Vorgang des Übersetzens.

Aber. Ob die Wortgruppe „die soziale Frage“ nun als Untersuchung gedacht ist oder als herablassend zu denkende Zusammenfassung eines Problems. Es handelt sich um Herrschaftssprechen. Ein Herrschaftssprechen ist das, das sich als das üblich zu Sprechende gibt. Ein Herrschaftssprechen ist das, wie es uns zwingt, die empörenden Umstände mitzusprechen, in denen wir gelebt wurden und werden, weil wir nicht anders sprechen können. Die soziologische Verwendung des Begriffs ändert daran nichts. Im Gegenteil. Im Abfall des wissenschaftlichen Sprechens im 17. Jahrhundert von der Literatur sind die Möglichkeiten wissenschaftlich entfremdeten Sprechens überhaupt begründet.

Wenn Sprache das Produkt einer Sprachgemeinschaft sein soll. Dann sind wir alle Ausgeschlossene und sprechen a priori in uns fremden Sprachen. Denn. Die Kommunikationsfähigkeit im Sprechen findet in einer eigenen Realität statt, die nichts über die Machtverhältnisse aussagt. Im Gegenteil. Wie wir immer wieder bestätigt finden, die subalterne Person weiss so vieles mehr als die hegemonial positionierte Person. Die subalterne Person muss ja nicht nur alles über sich wissen, um in der Logik der hegemonialen Umstände funktionieren zu können. Dazu. Die subalterne Person muss die hegemoniale Person erfassen. Denn. Die subalterne Person muss die hegemoniale Person in ihrer Hegemonialität pflegen und bestätigen, um die Hegemonialität so zu gestalten, dass das Funkionieren der Hegemonialität gewährleistet ist und damit das Funkionieren der Subalternität erfolgen kann. Aber. Die subalterne Person wird das alles nicht sagen können. Fontanes „Effi Briest“ ist ein perfektes Panorama dieser Konstellation.

So. Wie die Geschichte der Hausvaternehe der bürgerlichen Gesetzbücher in vielen Staaten diese Konstellation in aller Selbstverständlichkeit als Grundlage des Triebschicksals von Hegemonialität für den Mann und Subalternität der Frau ansehen. Nun haben die Frauen dieser Thematik neue Formen abgerungen. Weibliche Subalternität ist nicht mehr die Selbstverständlichkeit, die durch das bürgerliche Gesetzbuch mit dem Hausvater als Herrscher und Versorger hergestellt wurde. Wieder sehen wir den Verfall der Verantwortung des Hegemon, der auch aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeit die Frau gerne mitverdienen sieht und die Verantwortung als Versorger gerne aufgegeben hat. Nicht unähnlich dem Grundbesitzer des Jahres 1848 wurden den Frauen Möglichkeiten zugestanden. Rechte kann das nicht genannt werden. Wie kann Zuwendung oder Achtung als Recht eingefordert werden. Dazu müssten die Machtverhältnisse so unbedingt neu gestaltet werden, dass wir die Welt nicht mehr erkennen könnten. So selbstverständlich konnte und kann das Private als Raum des selbstverständlichen Betrugs um diese Formen gesehen werden. Und. Diesem Vorgang ist der Roman als Form abgerungen, diese private Welt privater Gefühle und den Verbrechen an denen berichtbar zu machen.

Heute. Wie die abgestiegenen Aristokraten nach der österreichischen Revolution 1918 finden sich die Hausväter ihrer Privilegien beraubt und versammeln sich hinter Männlichkeitspropheten wie Andrew Tate und politischen Parteien, die ihnen die Restauration ihrer privaten Macht versprechen. Ganz wie die Monarchisten damals verlangt Andrew Tate eine Rückkehr zu den Gepflogenheiten der Hausvaternschaft des bürgerlichen Gesetzbuchs als totale Herrschaft über die Körper der Frau, der Kinder und des Gesindes. Zu erwähnen bleibt hier, dass diese Monarchisten am Entstehen des Austrofaschismus führend mitbeteiligt waren. Und wieder und weiter. Die reaktionäre Nostalgie des hausväterlich männlichen Triebschicksals beschert uns jene rechtsradikalen Haltungen, die bei den Wahlen in Österreich am 29. September eine grundlegende Rolle spielen werden. Die soziale Frage wurde und wird ja ohne die Erwähnung der Triebschicksale besprochen. Subalterne haben kein Triebschicksal. Das männliche Triebschicksal liegt zur politischen Benutzung frei vor. Die gesamte Literatur von Arthur Schnitzler ist rührseliges Testament davon. Im Tagebuch verhandelt Schnitzler sehr wohl die realen Lebensumstände vor allem subalterner Frauen. In der Literatur konstruiert er das „süße Mädel“, das mit Hilfe des Gelds des Liebhabers kurz dem subalternen Schicksal enthoben wird. Das aber mit dem ungewollten Kind wieder dorthin zurückkehren wird müssen. Literatur ringt nicht immer den Verhältnissen neue Formen ab.

Sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu können. Das ist Sozialisierung. Wir machen das alle durch. Die Individualisierung stellt da keine Gegenkraft dar. Im Gegenteil. Die Swifties oder die Vertreter Andrew Tate`scher Männeridentität sehen sich selbst als durchaus autonome Personen an. Die Entscheidung für die Massenzugehörigkeit wird ja als individualisierend angesehen. Es ist in dieser Entscheidung nur mitenthalten. Und das ist meist tief verborgen. Die Entscheidung für die eine Masse enthält die Ablehnung anderer Massen. Den Hass auf die anderen, die als Masse wahrgenommen werden, während die eigene Zugehörigkeit als persönliche Entscheidung das Massenhafte der Zugehörigkeit aufhebt. Kulturell. Wir lernen Masse zu hassen, während wir selbst uns einer zurechnen. Das Prinzip Masse ist ideologisierte Projektion. Für die soziale Frage bedeutet das die Verstärkung des Blicks von oben auf die in dieser Wortgruppe enthaltenen Personen indem sie zur Masse verachtet werden. In meiner Kultur. Es kommt noch die Vorstellung von Pöbel und Revolutionärem dazu. Bis heute ist die Politik in Wien nicht nur von den gegenreformatorischen Konstruktionen der Ver-Anderung der NichtKatholischAnderen begründet. Die reaktionären Ängste vor der französischen Revolution und der Gewalt der Straße beeinflussen weiterhin das politische Ordnungsdenken des Zentrums und der rechten Parteien. So wurde in der Pandemie ein Gesetz aus der Monarchie ausgegraben, in dem uns verboten wurde, zu dritt an einer Straßenecke zu stehen und miteinander zu reden. Wie wir seit der Pandemie über die langen ordnungsgeschichtlichen Linien in unseren Staaten ja überhaupt sehr viel mehr wissen.

Und. In der Pandemie. Wir wurden in aller Form daran erinnert, dass der Staat sich die Hoheit über unsere Körper zumutet. In der Habsburger Monarchie wurde 1868 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Das bedeutet die bürokratische Erfassung der Person, die militärische Ausbildung und die Verfügung über den so erfassten und ausgebildeten Körper im Kriegsfall. Das ist bis heute so und bittere Gegenwart der Kriege. Aber. Unter diesem Gesichtspunkt. Es stellt sich die Frage, wenn Demokratie die Grundrechte garantiert, dann wird das Grundrecht auf körperliche Unverletztheit erteilt. Sicher. Es werden nur noch Freiwillige militärisch ausgebildet. Dennoch. Die Frieden voraussetzenden Verfassungen stehen einer militarisierten Praxis gegenüber. Die, in den liberalen Medien laufende Mobilisierung zur Kriegsbereitschaft erweitert den Abstand zwischen den Versprechungen der Verfassungen und der gelebten politischen Praxis. In gewisser Weise ist die soziale Frage mit dem Vorgang der Militarisierung darin verbunden, als dass es sich um dieselben Personen handelt, die in der sozialen Frage durch Reformen ihre Arbeitskraft erhalten bekommen sollen. Denen durch organisatorische Maßnahmen das Leben so erhalten wird, dass die Ausbeutung der Arbeitskraft bis zum Ende des Arbeitslebens optimiert stattfinden kann. Die autoritäre Demokratie wacht über die Personen im Homeoffice wie über die Packer*innen in der fensterlosen Amazon Lagerhalle. –

Die Wirtschaftstreibenden stellen Forderungen und in der sorgfältig verborgenen Verachtung der Massen nimmt die Politik sich der sozialen Frage in entsprechendem Blick von oben an. Und dieser Blick. Den benutzen auch linke Parteien in gut verhüllt schattigen Nachziehverfahren subalterner Selbstverachtung. Subalterne Selbstverachtung ist der Antrieb für sozialen Aufstieg und im Rahmen der Selbstoptimierung notwendige Selbstmotivation eines klassenvermittelten Unbewussten.

Nun. Während der männliche Körper in der Vermassung als Industriearbeiter oder Soldat Instrument des Staats war und geblieben ist, aber die Herrschaft über die Frau und die Familie zu seiner Stillhaltung übertragen bekam. Weiblichkeit ist immer schon als Masse gedacht. Dafür haben die Religionen gesorgt, die genau regeln, wie Frauen leben sollen. Die Säkularisierung seit der Moderne hat daran nichts geändert. Wieder. Der Wahlkampf in den USA handelt von der Verfügung der Frau über ihren eigenen Körper. Bei uns. Abtreibung ist nicht entkriminalisiert wie das in Frankreich mit dem Eintrag des Rechts auf diese Selbstverfügung in die Verfassung der Fall ist. Die große Zustimmung dafür in der Volksabstimmung. Wie dieser Vorgang doch ein schönes Beispiel dafür ist, wie anders die Bevölkerung entscheidet als das die hegemoniale Politik so tut. Es ist aber nun diese Verfügung über den eigenen Körper, die uns jene Autonomie zuspricht, aus der heraus wir autonome politische Entscheidungen treffen können. Aber. Um wahrhaft autonom entscheiden zu können und damit eine Annäherung an das Demokratische zu schaffen. Wir müssen unsere früh erlernte Vorstellung von uns als Masse und von den anderen als Masse durcharbeiten. Diese Vorstellungen sind uns ohne unsere Zustimmung eingesenkt worden. Oft wissen wir nichts von diesen Vorstellungen. Immer aber sind solche unreflektierten Einschlüsse von außen abrufbar. Sie kennen das. Plötzlich stehen wir einer Person gegenüber, die wir lange gekannt haben, die aber nun eine völlig andere Person geworden ist, weil sie tangential in eine andere Denkwelt davongegangen ist.Oder waren wir es, die davongingen? Ob verführt. Ob entschlossen. Ob getriggert. Immer sind unbewußte Einschlüsse mitbeteiligt. Einschlüsse sind das, die sich als eine Glaubensform geben. Glauben im Sinne von etwas für wahr halten und an etwas glauben werden da deckungsgleich gemacht. Ich entdecke solche Einschlüsse immer wieder selbst in mir und verfalle dann in die Verzweiflung darüber, so gemacht worden zu sein. Also ohne jede eigene Beteiligung das Eigene formen haben zu müssen.

Nun. Die Ellipse „die soziale Frage“ als Versteck der Subalternität. Die Geschichte der sozialen Frage ist eine Geschichte der Maßnahmen und deren Folgen. Es ist die Geschichte von handelnder Hegemonialität und behandelten Massen. Über diese Massen wissen wir nichts. Die Geschichte dieser Massen wird in Zahlen umgewandelt unlesbar gemacht. So viele starben an Hunger. So viele wurden krank. So viele sind arbeitslos. So viele werden umgeschult. So viele erfüllen die Kriterien nicht. Negativkataloge sind diese Zahlen. Glück ist eine Sinneinheit, die in der sozialen Frage nicht vorkommt. Die Geschichte dieser Massen wird nicht geschrieben. Diese Massen machen aber die Geschichte. Immer schon. Die sich in der Masse als Masse benachteiligt Fühlenden formen Bewegungen. In den USA zum Beispiel fanden diese Bevölkerungsgruppen die republikanische Partei als Kristallisationspunkt ihrer Bewegung. Diese Personen bezeichnen sich als zurückgelassen. Als verachtet. Es musste keine neue Bewegung für das Emanzipationsbegehren dieser Gruppen aufgebaut werden. Die republikanische Partei wurde für diese Bewegung dienstbar gemacht. Die republikanische Partei ist erobert und steht mittlerweile als Instrument zu Verfügung. Und weiterhin geht es um Lebensweltliches. Es ist gleichgültig, wie diese Bevölkerungsgruppen von der Soziologie oder der Politik oder den Medien eingeschätzt werden. Beurteilt sind. Abgewertet werden. Es geht um die Selbstempfindung. Es geht um das Gefühl, ob Teilhabe am Gesellschaftlichen erlebt wird. Oder nicht. Und was Teilhabe ist, wird neu definiert. Empfindung ist das Maß der Einschätzungen. Analyse gilt nicht. Trump wird von diesen Gruppen das Mandat erteilt, über seine Teilhabe an der Macht die Vertretung der Anliegen der, sich subaltern Fühlenden, gegenüber allen Strukturen des Staats zu übernehmen. Dieses Mandat scheint durchaus die Überwindung der jetzt herrschenden Klasse zu meinen. Mit welchen Mitteln auch immer.

Beteiligung. Verfügung über sich selbst. Mitsprache. Es muss der feudalen Erbschaft des Begriffs „die soziale Frage“ die Absage erteilt werden. Diese Absage ist eine der Aufgabe des Literarischen. Verständnis und Verstehen. Nur Literatur ist in der Lage die Komplexität der gelebten Erfahrung zumindest widerzugeben und damit lesbar zu machen. So gibt der Roman „Jakob, der Letzte“ von Peter Rosegger umfassend Auskunft über die Folgen von Herrschaft. Die Gründung des Volksheeres. Die Industrialisierung der Holzwirtschaft und die Zerstörung der Wälder. Die Auflösung der Familie unter dem Diktat der katholischen Kirche. Industrialisierung und die immer größer werdende Gewalt des k.u.k. Zentralstaats. Wie das gelebt werden muss, das vermittelt dieser Roman. Wenn von der Gewalt der Bürokratisierung des k.u.k. Zentralstaats die Rede ist, dann ist bei Kafka davon mehr zu erfahren als in jeder Beschreibung der Reformen des Kanzlers Bach. Grillparzers Selbstbiografie erklärt die Figur des Kanzlers Metternich in einer kleinen Skizze. Wären John Updikes „Rabbit Novels“ gelesen worden. Gelesen als forschender Vorgang. The „Grapes of Wrath“ scheinen mir immer noch relevant.“Farewell to Arms.“  Und wer Faulkners „The Wild Palms“ und Joan Didions „Play it as it lays“ gelesen hat, kann nie wieder Abtreibung verbieten wollen. Lebenswirklichkeiten können nur in Romanen wiedergegeben werden. Und es ist ja dieser Wunsch, im eigenen Roman vorgekommen zu sein, der die Nicht-Beschriebenen bewegt. Wäre Literatur nicht so endgültig in den Bereich der Unterhaltung verbannt worden. Es könnte etwas über die Trump Anhänger gewusst worden sein. Über die FPÖ Wähler. Weil die Geschichte Subalterner immer nur in Einzelgeschichten erzählbar ist. Aber das würde ja ohnehin schon eine andere Politik vorausgesetzt haben. Eine ganz andere Kultur.

Es ging also doch darum, dass jede Person ihren Roman schreiben kann und sich damit der Subalternität unseres selbstverständlichen politischen Denkens entziehen lernt. Und das beträfe jede Person. Denn. In irgendeiner Weise fallen Teilbereiche unserer Identitäten in eine der Massedefinitionen, weil nur ein sehr großes Vermögen das Entkommen der Vermassung bewerkstelligen könnte. Das, was der Roman für den empfindsamen bürgerlichen Mann des späten 18. Jahrhunderts leistete, muss vergesellschaftet nun für alle möglich sein. Wer ist denn überhaupt auf die Idee gekommen, dass diese Darstellungsform immer nur für einzelne Besondere gelten darf. Eine Politik der Anerkennung, dass es sich um die besonderen Leben aller handelt, ist dieser Elitenvorstellung entgegenzusetzen. Und wenn das die Auflösung der Literatur nach sich zieht, aber das soziale Paradies entstünde…. Es geht darum, der Thematik neue Formen abzuringen. Also. Dass sich derart eine Politik ermöglichte, die im Demokratischen stattfindet und nicht nur vom Demokratischen handelt. Das wiederum würde bedeuten, dass wir vom Sprechen der einzelnen Romane ausgingen. Uns also auf die einzeln gelebten Erfahrungen bezögen, die nicht mehr in eine Vorstellung von Masse aufgesogen, in diesem Begriff verschwinden.

Ich bleibe beim Sprechen. Literatur ist für mich Sprechen. Und zwar entwerfendes, taumelndes, stammelndes, suchendes Sprechen, das sich nicht aus einem übergeordnetes Zeichensystem einer kanonischen Sprache bedienen will, sondern auf der Ebene der verordneten Subalternität um das Sprechen kämpft.

Ein literarisches Sprechen könnte das sein, das sich aus den vielen Beispielen solchen Sprechens ein eigenes Zeichensystem erspricht, mit dem den hegemonialen Vorschriftssprachen eines Kanons oder des Akademischen zu entkommen wäre.  „So wäre,“ schreibt Peter Szondi, „die Krise nicht nur der dramatischen Form, sondern der Tradition als solcher zu lösen.“[4] Dieser Vorschlag auf „die soziale Frage“ angewandt. Daran arbeiten wir weiter. Auf ein neues Sprechen im Literarischen hin, das demokratisch ist und nicht nur die Erzählung davon. Und. So ein Roman. Der entzieht dem Algorithmus die Macht über Erzählung und Erzählweise. Und. Mit jedem Roman. Mit jedem neuen Versuch den Thematiken neue Formen abzuringen. Es entstehen neue und vielfältige Texte. Es wäre notwendig gewesen, rechtzeitig diese Texte der Künstlichen Intelligenz zum Lernen zu geben, um gleichberechtigte und vielfältige Modelle des Denkens in die „Erziehung“ der künstlichen Intelligenz einszupeisen. Etwas, was versäumt wurde und wofür schreckliche Folgen vorauszusagen sind. Denn. Ein solcher Vorgang arbeitete gegen die Masse der Vorurteile, die in allen unseren Sprachen enthalten ist und die wir selbst so sorglos wiederholen. So. In Vielfalt und Akzeptanz geschult. Ein Weg aus der Krise der Tradition als solcher wäre zu beschreiten. Wäre beschreitbar gewesen. Ist zu beschreiten.

 

[1] Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880 -1950). Frankfurt 1974. S. 162.

[2] Duden. Mannheim 1973. S. 333

[3] Brockhaus. Leipzig 1929. Neue Ausgabe mit Nachtrag 1933.

[4] Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt 1974. S.162.