01.08.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Wahlkampfroman 2008.
Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz macht ihrem politischen Unmut anlässlich der Nationalratswahlen 2008 literarisch Luft.
Weil sich ja nichts verbessert hat. Weil die Politik wieder nur sich selbst verwaltet hat. Weil es ganz gleichgültig war, wie das bißchen Politik, das passierte, sich in die Leben schlägt. Weil weiterhin die Regierenden die Herrschenden sind und die Regierten die anderen und beherrscht. Und weil nur anderen wissen müssen, was die Politik der einen bedeutet. Weil die Politik die Entfremdung an die Personen selber delegiert und die Entfremdung damit zum Bestandteil des Persönlichen und unsichtbar macht.
Deshalb kann nur noch die Erzählung Politik darstellen. Und deshalb wird der Wahlkampfroman von 2006 im Wahlkampf 2008 wieder aufgenommen.
Jede Woche am Donnerstag wird eine weitere Geschichte aus Nadines und Barbaras Leben das erzählen, was die Politik wirklich bedeutet. Jede Woche ab dem 14. August. Auf jeden Fall bis zur Bildung der nächsten Regierung. (www.marlenestreeruwitz.at)
13.08.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Erste Folge.
Nadine muß nach München fahren und die Tante Rosa und ihre 5 Riesenkoffer vom Flughafen abholen. Die Tante Rosa ist die sehr viel ältere Halbschwester von Nadines und Barbaras Müttern. Sie war ein uneheliches Kind, das die Großmutter mit 17 Jahren bekam. Lange bevor sie dann Nadines und Barbaras Großvater heiratete. Es hatte im Dorf immer die wildesten Vermutungen gegeben, wer der Vater von Tante Rosa sein könnte. Die Großmutter hatte nie gesagt, wer der Vater war. Die Tante Rosa war dann mit 14 als Küchenhilfe in eines von diesen großen Hotels in Kitzbühel gesteckt worden. In Kitzbühel war sie von Ernie G. entdeckt worden, die in ihrem Haus junge Tirolerinnen mit amerikanischen Millionären verkuppelte. Die Tante Rosa lernte da ihren texanischen Millionär kennen und ging mit ihm nach Amerika. Der texanische Millionär war dann nur ein Versicherungskaufmann gewesen, aber er hatte immer sehr gut verdient und Tante Rosa führte mit ihm eine glückliche Ehe. Sie hatten keine Kinder, deshalb kümmerte sie sich sehr um ihre Nichten und Nadine und Barbara waren jeden Sommer bei ihr in den USA gewesen. So lange die Großmutter lebte, mußte mit der Tante Rosa aber heimlich verkehrt werden. Die Großmutter wollte mit dieser Tochter nichts mehr zu tun haben. Der Mann von Tante Rosa starb dann an einem Herzinfarkt und sie war nach Florida gezogen. Mit den Börsenkrisen war ihr Vermögen immer weniger geworden und weil sie ein halbwegs gutes Angebot für ihr Haus bekommen hatte, hatte sie verkauft und beschlossen, nach Tirol zu kommen. In ihrem Alter könne sie nicht mehr das Ende einer Rezession abwarten, hatte sie gesagt. Und in Tirol stand ihr ja ein Drittel des Hauses zu, das sie bisher nicht in Anspruch genommen hatte. Nadines Vater hatte zuerst getobt. Das wäre typisch für die Amis, hatte er geschrien. So lange es ihnen gut ginge. So lange würde man nichts von ihnen haben können. Hätte die Tante Rosa ihnen mit ihrem Geld ausgeholfen, wie es um den Betrieb gegangen war. Nein. Aber. Kaum wäre es ein bißchen enger für sie, kämen sie zurückgelaufen. Und diese Frau. Die habe immer nur Unruhe hervorgebracht. Und wäre das nicht wieder typisch. Und überhaupt. Wenn es nach ihm ginge, dann hätten die Unehelichen nie das Erbrecht gekriegt. Da könne man sehen, was die Roten eigentlich gewollt hätten. Die Männer sollten bestraft werden dafür, daß sie Männer seien. Bei solchen Gesetzen könne ein Mann doch wirklich nicht mehr machen, was er wolle. Nadines Mutter beunruhigte diese Rederei sehr. Sie überlegte, warum ihr Mann sich gegen ein Gesetz aus der Kreiskyzeit so aufregte. Hatte er selber ein uneheliches Kind irgendwo und fühlte sich deshalb selbst betroffen. Die Situation war jedenfalls klar. Der Tante Rosa gehörte ein Drittel des Hauses. Barbara gehörte ein weiteres aus der Erbschaft von ihrer Mutter. Und außerdem standen die Werkstatt und die Büroräume nach dem Konkurs ohnehin leer. Nadines Mutter fand, ihre große Schwester Rosa sollte einmal kommen und dann würde man weitersehen. Sie fand es ein Glück, daß ihr Mann wegen der Umschulung im AMS die ganze Woche in Innsbruck sein mußte. Da würde sich alles leichter finden. Währenddessen begann man sich im „Goldenen Lamm“ wieder Gedanken zu machen, wer nun der Vater von der Rosa sein könnte und ob die Rosa vielleicht nur herkäme, um mit einem DNA Test die Erbschaft von diesem Vater einzufordern. Jetzt wo sie offenkundig pleite war, könnte sie ja versuchen sich so ein Einkommen zu verschaffen.
Nadine fährt also von Wien nach München. Zuerst denkt sie, die Tante Rosa würde nur auf dem Flughafen im Rollstuhl transportiert werden. Aber die Tante Rosa sitzt im Rollstuhl. Auf der Fahrt nach Brixen fragt die Tante Rosa, ob sich in Österreich die Welt verändert hätte und was sie als Rollstuhlfahrerin erwarten müsse. Nadine überlegt fieberhaft, was der Tante für Errungenschaften der Behindertenpolitik vorzuführen seien. Nadine beginnt zu beteuern, daß man auch in Österreich mittlerweile alles tue, um Behinderten eine normale Teilnahme am normalen Leben zu ermöglichen. Das hätte sicherlich auch mit der EU zu tun. Warum, fragt die Tante. Warum hätte sie dann aber in der Zeitung gelesen, daß nun auch die Grünen sich ihrer Behindertensprecherin entledigt hätten. Ob man denn der Meinung sei, daß alles geschehen wäre, was notwendig ist und deshalb keine Behindertenpolitik mehr bräuchte. Nadine weiß keine Antwort. Aber die Tante redet schon über die Schallschutzmauern rechts und links der Autobahn. Wenn man so sensibel auf Lärm reagiere, dann habe sich doch viel geändert. Die Tante setzt sich unternehmungslustig auf. Nadine ist nicht so sicher, daß Schallschutzwände einen Beweis für eine hohe Rücksichtnahme in der Alltagskultur darstellen.
21.08.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Zweite Folge.
Das Leben geht weiter. Zweite Folge.
Barbara war wieder allein. Der Pauli hatte ausreisen müssen. Erstens war seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert worden. Er hatte nicht genügend Prüfungswochenstunden vorlegen können. Und dann waren nicht mehr die vorgeschriebenen 5.000 Euro auf dem Sparbuch. Das war alles wegen der Geburt des Babys. Barbara hatte am Ende der Schwangerschaft sehr viel liegen müssen und hatte sogar ihre Diplomarbeit nicht fertig bekommen deswegen. Und der Pauli hatte mit Mühe die Bilder für die Ausstellung in Den Haag fertig gebracht. Das Kinderbett und der Kinderwagen hatten auch second hand eine Menge gekostet und der Pauli hatte ja mit der Auszahlung von der Galerie in Den Haag rechnen können. Seine Bilder hatten sich dort gut verkauft, aber die Abrechnung ließ auf sich warten. Der Galerist war nie erreichbar gewesen und dann war die kleine Anelka Anastasija auf die Welt gekommen und niemand hatte sich um etwas anderes kümmern können. Dann war der Krieg in Georgien ausgebrochen und der Pauli hatte zu seiner Mutter nach Belgrad zurück müssen. Paulis Mutter war schwer depressiv. Paulis Vater war im ersten Jugoslavienkonflikt schon umgekommen. Trotzdem wollte sie nicht nach Wien kommen und ihr Enkelkind ansehen. Barbara hatte gedacht, diese Frau müße sich über ein Enkelkind freuen. Es schien aber mehr darum zu gehen, wer die Macht über den Pauli hatte. Der Pauli wiederum hatte es als seine Pflicht angesehen, sich um seine Mutter zu kümmern und mit Barbara und der kleinen Anelka war ja alles in Ordnung. Barbara fühlte sich aber als zöge der Pauli nun selbst in den Krieg. Sie war sehr traurig. Sie saß in ihrem Zimmer in der WG und fühlte sich von aller Welt getrennt. Weil sich die Sache mit dem Kindergeld nicht so leicht regeln ließ und erst noch eine Abmeldung bei der SVA notwendig war, damit ihr da nicht noch etwas abgezogen wurde, hatte sie auch kaum noch Geld. Dann kam die Nachricht, daß dem Pauli die Einreise verweigert wurde. Er bekam kein Visum, weil der Verdacht auf Schließung einer Scheinehe vorlag. Barbara war verzweifelt. Sie konnte als Österreicherin nicht einmal mehr den Vater ihres Kindes in das Land bringen, mit dem sie nun ganz sicher nicht in einer Scheinbeziehung gelebt hatte. Plötzlich waren alle Realitäten verkehrt und sie waren durch die Bürokratie voneinander getrennt, als lebten sie nun wieder in tiefen Kriegszeiten und die Einreise des Pauli wäre die Einreise eines nationalen Feindes. Barbara war aus Unglück nicht in der Lage ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie hätte das Kind ja auch im Kindergarten anmelden sollen, damit es dann auch wirklich einen Kindergartenplatz in einem öffentlichen Kindergarten in Wien geben würde. Obwohl man es sich da überlegen und schon wegen des so viel billigeren Kindergartenplatzes ins Burgenland auswandern sollte. Während in Wien 215 Euro aufzubringen waren, mußte man im Burgenland nur 72 Euro für einen Ganztagesplatz zahlen. Aber es ging ja ohnehin um Auswandern. Barbara mußte Nadine fragen, ob sie ihr das Geld für einen Flug nach Den Haag leihen konnte. Der Galerist hatte den Pauli zur Finissage eingeladen und dorthin hatte der Pauli ein Visum bekommen. Barbara mußte nun mit der kleinen Anelka nach Den Haag reisen, damit sie den Vater dieses Kindes treffen konnte. In Wien hingen überall Plakate, auf denen mit “Kulturschock” für das Museumsquartier geworben wurde. Barbara machte das sehr wütend. Auf diesen Plakaten waren es immer nur Frauen, die wegen irgendeines Kunstpipikrams überwältigt zusammenbrachen. Die Ohnmacht der schwachen Frau von 1900 wurde so wieder zur Auferstehung gebracht. Und Kulturschock. Das war das Ausfüllen der Haftungserklärung gemäß §2 Abs. 1 Z 15 NAG, auf der nur jemand mit Lohnzettel die Haftung für den Pauli übernehmen konnte. In der Umgebung Barbaras gab es aber niemanden mehr, der einen Lohnzettel hatte. Der Vater von der Nadine war in der AMS. Die Mutter von Nadine in der Frühpension und mit ihren 440 Euro pro Monat hätte sie nicht haften dürfen. In der WG waren alle prekär Beschäftigte. Auf der Akademie dasselbe. Barbara flog nach Den Haag. Sie nahm alles mit, was ihr wichtig war. Sie packte auch ihren alten Teddybären ein. Falls sie nicht mehr zurückkamen. Barbara dachte, daß es schon seltsam wäre, daß das, was sich ihre Heimat nannte, sie nun ausstieß, weil sie keinen EU Bürger ausgesucht hatte. Dann wieder dachte sie, daß es zumindest diese Erweiterung gegeben hätte. Daß es ohne EU noch enger sein würde und es dann noch mehr Ausländer gäbe, als durch das Aufenthaltsgesetz hergestellt wurden. Auf dem Flughafen dann war Barbara wieder ruhig. Als dieser ältere Mann am Gate neben ihr die unvermeidliche Bemerkung machte, ob es denn wirklich notwendig sei, mit einem so kleinen Baby zu fliegen. Da schaute sie Anelka an und dann den Mann. Sie sagte aber nicht einmal etwas. Der Mann war zu griesgrämig, um es ihrer Tochter zuzumuten, ein Gespräch mit einer solchen Person anhören zu müssen. Barbara war ganz zufrieden, wie Anelka dann vor dem Start schrie und deshalb die Sitzreihe neben ihr leer blieb. Es geschah denen allen recht, wenn sie und Anelka diesem Land verloren ging.
27.08.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Dritte Folge.
Die Tante Rosa hatte dann zuerst geglaubt, ein Einbrecher versuche in das Haus einzudringen.Jemand versuchte das Schloß zu öffnen. Der Schlüssel paßte aber nicht und die Person vor der Tür schlug auf das Schloß ein. Da dachte die Tante Rosa, daß ein Einbrecher das nicht tun würde. Die Tante Rosa hatte im Internet die Kriminalstatistik von Österreich und besonders von Tirol angeschaut, bevor sie nach Brixen zurückgekommen war. Da war abzulesen gewesen, daß die Kriminalität im Sinken war. Sie fuhr mit dem Rollstuhl an die Tür und schaute nach. Sie riß die Tür von innen auf und eine sehr junge Person fiel fast ins Haus. Eine junge Frau in schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt mit rabenschwarz gefärbten Haaren und Piercings in den Lippen und um den Nabel schaute auf sie herunter. Wer sie denn wäre, fragte diese Person die Tante Rosa. Und warum das Schloß nun schon wieder geändert worden sei. Also sie wäre die Tante Rosa und das Schloß wäre geändert, weil ihre Schwester den Schlüssel verloren habe und sie sei dann ja wohl die Irmi. Sie habe schon viel von ihr gehört. Das könne sie nun wieder von der Tante Rosa sagen, sagte die Irmi und grinste. Sie sei also die Person, die die Stammtische im ganzen Land in Atem halte mit ihren Erbschaftsansprüchen. Die Tante Rosa mußte lachen. Ja, rief sie. Sie würde ihren Vater noch aus dem Grab herausholen lassen und da würden sich alle noch sehr wundern. Aber es gäbe auch noch viele Geschwister und andere Verwandte. Aber was wolle die Irmi hier. Die Irmi setzte sich auf den Boden im Vorzimmer und starrte auf das Schmetterlingstattoo ober ihrem rechten Knie. Na ja, sagte sie. Sie hätte halt gedacht. Der Vater von der Nadine. Der hätte sie immer da schlafen lassen. Was das solle, sagte die Tante Rosa sehr streng. Nein. Das wäre doch alles nicht so. Es wäre nur weil ihr Vater. Wenn er betrunken wäre. Irmi schaute die Tante Rosa an. Sie bemühte sich, nicht zu flehentlich dreinzuschauen. Die Tante Rosa war auch nicht sehr beeindruckt. Wie alt sie denn wäre, fragte sie die Irmi. Mit dem Ausreißen. Das könnte sie nicht unterstützen. Sie wäre doch ohnehin 18, sagte die Irmi. Aber sie habe halt Angst, daß etwas passieren könnte. Wenn der Vater so rabiat daherkäme. Ja, meinte die Tante Rosa. Und so viel sie jetzt schon mitgekriegt hätte, wäre es kein Spaß hier mit der Polizei. Wenn immer gleich Fußfesseln angelegt werden sollten und wenn die Innenministerin jeden Tag härter durchgreifen wollte gegen das kriminelle Element. Ob sie so etwas sei. Ob die Irmi ein kriminelles Element wäre. Da war es der Irmi zu viel und sie begann zu weinen. Sie saß auf dem Fußboden und heulte in ihre Knie. Sie könne jetzt gar nicht lachen, schluchzte sie. Die Tante Rosa habe ja keine Ahnung, wie das wäre. Mit einem Vater, dem alle mehr glaubten als ihr. Und es sei so weit, daß sie nicht einmal mehr einen Selbstmord versuchen hätte wollen. Das eine Mal, wie sie sich die Pulsadern aufgeschnitten gehabt hatte, da hatte die Polizei sie nach Innsbruck in die Psychiatrie gebracht und dort wäre es dann weitergegangen. Sie hätte nicht einmal diese Möglichkeit mehr. Die Tante Rosa war nicht sicher, ob das ganze nun ein Theater war oder ob diese junge Frau wirklich in Not war. Sie könne ja einmal hereinkommen und ihnen beiden einen Tee kochen. Sehr viel zu essen wäre nicht im Haus. Alle anderen wären in Innsbruck und kämen erst am Wochenende wieder. Es gäbe nur Butterbrote. Wenn dann die Mehrwertsteuer auf die Lebensmittel gesenkt worden wäre, dann würden sie ja alle von diesem Molterer Kaviar und Gänseleber bekommen. Weil der das für die dringlichsten Lebensmittel hielte und immer darüber rede. Kaviar, das wäre doch Fisch, sagte die Irmi. Fisch äße sie nicht. Fisch. Das mochte sie nicht. Fisch wäre sehr gut für eine schöne Haut, sagte die Tante Rosa. Und was die Irmi denn gelernt habe. Ob sie arbeite oder in die Schule ginge. Ach, sagte die Irmi. Sie wäre auf die Billa Akademie gegangen und habe da Verkäuferin und so gelernt. Aber die Stellen in der Umgebung hätten alle die Burschen bekommen. Weil man bei ihr doch fürchten müsse, daß sie jederzeit ein Kind haben könnte. Und wäre das so, fragte die Tante Rosa. Die Irmi kannte sich ja in der Küche aus und hatte den Tee sehr schnell fertig. Aber nein, schüttelte die Irmi den Kopf. Bei ihr käme keiner ohne Gummi dran. Sie sei ja nicht blöd. Und außerdem. Diese Sache mit dem Sex. Sie wüßte eigentlich nicht so genau, warum einen das interessieren sollte. Na darüber, sagte die Tante Rosa. Darüber könnten sie später einmal reden. Das könne schon ganz nett sein, die Geschichte mit dem Sex. Aber sie habe das auch erst später begriffen. Jetzt sollten sie einmal darüber reden, ob sie nicht zu Hause anrufen sollte und sagen, wo sie war. Wie die Irmi mit Nachnamen hieße. Die Tante Rosa könne doch sicherlich jemanden brauchen. Wegen des Rollstuhls und so. Die Tante Rosa war nicht so sicher, ob das eine gute Idee war, die Irmi auf der Couch im Wohnzimmer schlafen zu lassen.
Fortsetzung folgt.
05.09.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Vierte Folge.
Das Leben geht weiter. Vierte Folge.
Barbara hatte den Pauli in Den Haag nicht treffen können. Der Pauli hatte bei seiner Mutter bleiben müssen. Die hatte einen Schlaganfall erlitten und er konnte nicht weg. Er war die einzige Person, auf die sie reagierte. Barbara hatte in Den Haag beim Galeristen gewohnt. Das war nett gewesen. Die ganze Familie war von Anelka begeistert gewesen und die Frau hatte Barbara vorgeschlagen, doch bei ihnen zu bleiben. Sie bräuchte ohnehin jemanden, der dem Haus einen Mittelpunkt gäbe. Es ginge nur darum, da zu sein, wenn die Kinder nach Hause zurückkämen. Und einkaufen hätte Barbara gehen sollen. Zuerst einmal war Barbara nach Wien zurück geflogen. Sie wollte die Rückkehr vom Pauli bei den Behörden durchsetzen. Barbara konnte nicht einsehen, daß eine solche bürokratische Grenze zwischen dem Recht ihrer Tochter auf ihren Vater und diesem Staat Österreich bestehen konnte. Dann aber füllte sie ein Formular falsch aus. Sie schrieb Pauli statt Paun. Der Pauli hieß eigentlich Paun. Weil dieser Name in Wien so fremd geklungen hatte und alle ihn immer Pauli genannt hatten, war dieser Name in Vergessenheit geraten. Weil nun ein Widerspruch zwischen der Geburtsurkunde von der kleinen Anelka und dem Formular bei der MA, mit dem der Pauli wenigstens einen vorübergehenden Aufenthalt ohne Niederlassungsabsicht bekommen sollte. Weil nun ein Widerspruch in den Vornamen bestand, wurde ihr das Formular per email zurückgesandt. Der Vermerk dazu war in einem so schrecklichen und verschreckenden Deutsch, daß sie erst einmal die email schließen mußte und sich hinlegen. Anelka begann zu weinen. Barbara saß da und konnte nicht reagieren. Sie hörte ihr Kind schreien, aber sie konnte nicht aufstehen und das Kind aufnehmen. Der Lucki kam dann ins Zimmer und sah sie so. Er nahm die kleine Anelka und trug sie herum. Sie war nicht zu beruhigen und Barbara versuchte sie zu stillen. Das ging aber plötzlich nicht. Barbara fühlte sich vollkommen leer und ausgebraucht. Es war keine Milch da und sie konnte sich nicht aufraffen, etwas zu tun. Der Lucki wurde böse. Das hätte er sich gleich gedacht, sagte er. Er hätte sich gleich gedacht, daß das alles so enden werde. Barbara war schwindlig geworden. Das Elend war so groß, daß sie auf einmal nichts mehr hörte. Sie sah dieses Zimmer verschwommen und nebelig. Das war es also, dachte sie. Es war nichts gelungen. Sie saß in einem WG Zimmer und hatte nicht einmal eine eigene Wohnung. Sie war eine alleinerziehende Mutter. Das war die schlimmste Position in so einer Gesellschaft. Die Gefahr in richtige Armut abzurutschen war 80%. Und nun konnte sie ihr Kind nicht einmal richtig ernähren. Die Wut vom Lucki hatte ihr ihre Unfähigkeit bewiesen und sie mußte auch hier heraus. Sie mußte wohl das Angebot aus Den Haag annehmen und als aupair da arbeiten. Noch vor 10 Jahren hätte sie längst wenigstens in einer Agentur arbeiten können und sich so selbst absichern können. Sie war gerade da gekommen, als Kreativität und Geist weniger als irgendetwas galten und sie hätte sich nicht vorstellen können, wie sie jetzt irgendwelche Projekte durchziehen sollte. Das Kindergeld war noch immer nicht bewillligt. Das Finanzamt hatte sich noch nicht mit sich selber kurzgeschlossen und sich über Barbara Auskunft gegeben. Das würde noch dauern. Und eigentlich wollte sie auch nicht als staatlich angestellte Mutter leben. Sie wollte die Herrin über ihr Leben bleiben. Sie wollte mit dem Vater des Kindes zusammenleben. Im Wahlkampf redeten wieder alle von den Familien, die es aber gar nicht mehr gab. Und sie konnte nicht einmal selber schnell zum Pauli. Sie brauchte selbst ein Visum für Serbien für sich und die kleine Anelka. Je länger sie so vor sich hindachte, umso schwerer wurde ihr alles. Der Lucki brachte ihr dann ein Essen. Er hatte sogar daran gedacht, daß sie keinen Zwiebel essen durfte. Wegen des Stillens. Und er führte die kleine Anelka im Kinderwagen spazieren und sie konnte sich schlafen legen. Und er wäre doch nicht ihretwegen böse. Oder weil die kleine Anelka so viel schriee. Er hätte sich über die Verhältnisse aufgeregt. Wie sie alle dazu verführt würden, sich zu internationalisieren und wie das dann nicht in ein Leben verwandelt werden könnte. Oder wie sie sich selber in globalisierte Monstren verwandeln müßten, denen nichts mehr etwas machte. Denen es egal sein mußte, ob sie jemanden lieben durften oder nicht. Und weil der Lucki Jus studierte, übernahm er es, die Einreise vom Pauli zu organisieren und sich um das Kindergeld zu kümmern. Als aupair, sagte er. Als aupair dürfte Barbara unter keinen Umständen arbeiten. Das würde ihr Schicksal besiegeln. Da käme sie nie wieder aus diesem Haushaltszeug heraus. Das hätte ihm seine Mutter erzählt. Die hatte seinen Vater als aupair in der Schweiz kennengelernt. Dann hätte sie es aber nicht aushalten können und wäre mit ihm nach Lienz zurückgegangen. Seine Mutter wäre Alleinerzieherin gewesen. Er wüßte alles darüber. Barbara solle sich jetzt einmal keine Sorgen machen. Schon wegen der kleinen Anelka.
Fortsetzung folgt.
15.09.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Fünfte Folge.
Das Leben geht weiter. Fünfte Folge.
Der Tante Rosa war es dann sehr schlecht gegangen. Die Tante Rosa regte sich fürchterlich über die Bankenkrise in Amerika auf. Sie hätte gar nichts da zurücklassen sollen, jammerte sie. Es kämen ja bei solchen Krisen immer die kleinen Leute so wie sie zum Handkuß für die Schweinereien der Manager. Die hätten sich ja ihre Häuser in den Hamptons alle gekauft und säßen da und könnten auf ihre Kunstsammlungen starren. Aber sie hätte es auch immer gewußt. Man hatte es wissen können. Sie hatte ja internetbanking lernen müssen, weil die Banken jedes Personal eingespart hätten. Und genau das habe den Banken das Gefühl geben können, wie ein UFO zu existieren. Über der Erde schweben und auf Raubzüge ausziehen. Sich alles krallen, was einem begehrenswert erschienen und dann in den Weiten des Raums verschwinden. Die Tante Rosa summte dann das Thema von “Raumschiff Enterprise”. Die in den Banken. Die hätten ja keine Leute mehr sehen müssen. Die hätten ja in niemandes Augen schauen müssen. Das mache es doch richtig leicht, sich alles zu nehmen. Von den Kleinen. Die Großen. Die hätten sie ja beim Cocktail oder bei der Vernissage gesehen. Die Tante Rosa sagte Wörnissatsch und alle mußten lachen. Nadines Mutter meinte dann, daß das mit den Lehman Brothers vielleicht daher käme, daß man die Konditorei Lehman in Wien am Graben schließen habe müssen. Das machte die Tante Rosa aber dann richtig böse. Solche Scherze könne sie nicht mehr vertragen. Und sie wäre ja keine konservative Person, aber da ginge es doch um Handwerk. Konditorei, das wäre doch eine Art Kunsthandwerk und wenn es das nicht mehr gäbe. Dann bekam die Tante Rosa Atembeschwerden und sagte, daß sie schlecht sähe. Daß sie gar nichts sehen könne. Vor lauter Sorgen. Es mußte zum Arzt gegangen werden. Die Tante Rosa rief alle Ärzte an und fragte, mit welchem Preis sie rechnen mußte. Sie war ja nicht versichert in Österreich. Die Mutter von Nadine konnte das erst gar nicht glauben. Einen Arzt zu fragen, was er kostete. Das kam ihr schon wie eine Entweihung vor. Dann aber erinnerte sie sich, daß ja sogar die katholischen Begräbnisse unterschiedliche Preise in unterschiedlichen Pfarren hatten. Und daß man für die Hochzeit auch nicht überall das gleiche bezahlte. Das beruhigte die Mutter von Nadine. Die Tante Rosa mußte lachen über sie. Wer ihr nun wichtiger wäre. Die Ärzte oder die Priester. Aber die Mutter von Nadine wollte einen solchen Vergleich nicht zulassen. Das wären doch sehr verschiedenen Dinge, meinte sie. Die Tante Rosa sagte, daß ihr die Ärzte wichtiger waren. Aber der Trost, meinte die Mutter von Nadine. Die Tante Rosa telefonierte nur weiter. Es wurde dann ein Termin bei einem Doktor A. ausgemacht. Sie wolle lesen und fernsehen, sagte die Tante Rosa und deshalb wolle sie zuerst zum Augenarzt. Es war dann nicht so leicht, mit dem Rollstuhl in die Ordination zu kommen. In der Ordination war auch kaum Platz. Die Sprechstundenhilfe wollte die Tante Rosa nicht annehmen. Das müsse ein Mißverständnis sein. Ohne e-card könne sie keine Krankengeschichte anfangen. Aus einem Nebenzimmer war eine Stimme zu hören. “Da. Beugen Sie sich vor. Das hat noch jeder ausgehalten. Da kann man nichts machen. Das tut eben weh. Jetzt bewegen Sie sich doch nicht. So ist das. Seien Sie nicht so empfindlich. Ja. Dann kann ich es nicht machen. Da wird der Herr Doktor wieder ganz schön böse werden. Da beneide ich Sie nicht. Ich kann da nichts machen.” Eine jüngere Frau stürzte aus dem Nebenzimmer und raste in das Behandlungszimmer. Man hörte ihre Stimme und eine Männerstimme. Dann kam der Arzt heraus. Er ging mit großen Schritten in das Nebenzimmer. “Was ist hier los. Sie befolgen nicht die Anweisungen meiner Assistentin?” Er sagte das laut. Eine ältere Frauenstimme antwortete. Sie könne den Kopf nicht so halten. “Das werden wir gleich haben.” Sagte der Arzt und dann war ein kleiner Schrei und ein Jammern zu hören. Die Tante Rosa drehte ihren Rollstuhl um und fuhr zur Tür. Die Mutter von Nadine wollte sie zurückhalten. Aber die Tante Rosa begann laut Bemerkungen zu machen und die Mutter von Nadine schob sie rasch davon. Die Tante Rosa hatte “Nazimethoden” gesagt und daß sie ihr Geld nicht für ihre Quälerei ausgeben wolle. Die Tante Rosa hatte einen Folder aus der Ordination mitgenommen. In dem riet die Ärztekammer den Patienten, die Partei zu wählen, die das beste Gesundheitssystem im Programm hatte. Aber alle Parteien wollten alles für das beste Gesundheitssystem tun. Keine Partei sagte, daß sie Einsparungen machen werde. Daß das Management über die ärztliche Leitung gestellt werden sollte. Daß die Ausstattung zentralisiert werden sollte und nicht mehr den regionalen Anforderungen entsprechen würde. Daß Personalknappheit unvermeidlich einen Qualitätsverlust mit sich brächte. Daß Erhöhungen der Krankenkassenbeiträge zu erwarten wären. Daß keine Entbürokratisierung stattfinden würde. Im Gegenteil. Daß die Dominanz des Managements erst richtig zu einem Anschwellen der Bürokratie führen würde. Daß Gesundheit eine Frage des Geldes war. Daß die Lebenserwartung vom Reichtum abhing. Während in der Praxis des Doktor A. schon am Ton zu hören gewesen war, daß Krankenkassenpatienten nehmen mußten, was sie bekamen. Und wenn das Verachtung war. Auch die Mutter von Nadine sagte gleich, daß es doch nicht so schlimm gewesen wäre. Daß man es eben aushalten müßte, schlecht behandelt zu werden, wenn man sich nichts anderes leisten könne. Daß man eben nicht empfindlich sein dürfe, wenn man das Geld dafür nicht habe. Die Tante Rosa wurde daraufhin so wütend, daß sie sich selbstständig machte und in den Goldenen Krug fuhr. Dort trank sie Bourbon auf Eis und tratschte mit der Rese, die da bediente und mit der sie in der Schule gewesen war. Es fand sich dann eine Augenärztin, bei der nicht herumgeschrieen wurde und die dann sogar noch weniger kostete. Die Tante Rosa erklärte der Mutter von der Nadine triumphierend, daß das doch eine Bestätigung für sie sei, die Ärzte wichtiger als die Pfarrern zu finden. Da konnten Frauen den Beruf ausüben und mit welchen guten Folgen, das wäre ja bei der Frau Doktor M. zu sehen gewesen. Das mußte die Mutter von der Nadine zugeben. Welche Partei sie für die Ärztekammer aber wählen sollte, das wußte sie deshalb immer noch nicht. Die beiden Frauen wollten Nadine fragen, was das Richtige sein könnte. Die Tante Rosa war ja für diesen Faymann. Die Mutter von der Nadine machte sich darüber lustig. Die Tante Rosa habe sich in den verschossen, sagte sie. Die Tante Rosa ließ sich da aber nicht beeinflußen. Als Amerikanerin sei sie eben oberflächlich. Aber der wäre schon der einzige, von dem man ein Auto kaufen könne. Alle anderen zeigten doch ihre Zähne in diesen Lächeln wie die bösen Wölfe. Sie hätte es gern, wenn einer ernst dreinschauen könne und nicht immer grinsen müsse. Und warum dieser Rechte da ein Ketterl am Handgelenk trage, wenn er sich doch über die Schwulen so aufrege. Das wäre doch sehr rätselhaft.
Fortsetzung folgt.
18.09.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Sechste Folge.
Das Leben geht weiter. Sechste Folge.
Barbara war dem Lucki sehr dankbar gewesen. Aber irgendwie war es eine schwierige Dankbarkeit und sie überlegte, wohin sie gehen sollte. Auf das Visum nach Serbien mußte sie noch warten. Die kleine Anelka mußte ihren eigenen Paß bekommen. Barbara fand es sehr seltsam, wie ihr kleines Mädchen vom Fotografen in das Fadenkreuz dieser Kamera genommen wurde, die diese interpretierbaren Bilder machte, nach denen man dann gesucht werden konnte. Es verstärkte Barbaras tiefe Depression, daß ihre kleine Tochter nun schon mit wenigen Wochen registriert worden war und daß ein Computer schon wußte, wie sie aussehen werden würde. Der Fotograf hatte ihr gesagt, daß er ihr Bilder besorgen konnte, auf denen sie zu sehen war, wie Anelka mit einem Jahr, mit drei, mit fünf oder mit fünfzehn Jahren aussah. Barbara hatte den Fotografen angeschaut und ihm sagen wollen, daß bei so einem Satz die Zukunft verwendet werden mußte. Daß Anelka erst in der Zukunft so aussehen würde. Aber dann sagte sie nichts. Mit dem Bild war das alles eine Realität und Gegenwart und sie mußte versuchen, sich und das Kind so weit wie möglich davon fernzuhalten. Sie mußte sich vorsagen, daß es nur darum ging, ihr Geld abzuknöpfen. Noch waren keine Folgen mit einem solchen Imaging verbunden. Der Fotograf hatte diese Bemerkung noch scherzhaft gemacht, daß die Eltern doch wissen müßten, für welche Schönheitsoperation sie sparen sollten. Barbara mußte dann aber doch lachen, wie sehr sie ihren Humor verloren hatte. Barbara fuhr dann zu ihren alten Freunden in Duisburg. Die hatten eine Freude an der kleinen Anelka. Das war das Wichtigste. In Wien beschloß man im Parlament strengere Gesetze gegen Sexualstraftäter. Barbara hätte sich gewünscht, daß es eine Stimmung in der Öffentlichkeit gegeben hätte, die selbstverständlicher mit Kindern umgehen konnte und darin dann freundlicher war. Das mit den Tätern, was da beschlossen worden war. Das setzte die Tat ja voraus. Das machte die Tat notwendig. Einen Schutz bot das nicht. Das war nur die Beruhigung all der Leute hinter den geschlossenen Fenstern und vorgezogenen Vorhängen, die sich dann so selbst eingesperrt erst recht fürchten mußten. Für ihr Kind war ihr das gleichgültig, was solche Leute für Sicherheitsbedürfnisse hatten. Barbara fand es eine Frechheit, all diese Maßnahmen, die sich um den Täter kümmerten, ein Gewaltschutzprogramm zu nennen. Es ging doch nur darum, die Wiederholung zu verhindern. Die Ersttat blieb so erhalten und konnte medienwirksam ausgeschlachtet werden. Die Polizei schien sich ja in eine PR Agentur für Mißbrauchsgeschichten entwickelt zu haben. Barbara fragte sich immer noch, wer die Fotografen angerufen hatte, wie Natascha Kampusch aus dem Haus getragen wurde. Und das Interview mit der jungen Polilzistin, die Natascha Kampusch ihre Uhr geschenkt hatte. Barbara durfte an solche Überschreitungen gar nicht denken. Solche Vorstellungen legten sich ihr so schwer aufs Herz, daß sie manchmal gar nicht weiter konnte. Und sie wollte nicht auf eine homepage gehen müssen und nachschauen, vor welchen Männern sie sich heute wieder fürchten sollte. Sie wollte nicht einer Paranoia so viel Platz einräumen. Dafür war die Polizei da. Die sollte die Täter überwachen und kontrollieren. Und erst wenn einer sich entzog und verschwand. Dann sollten seine Daten veröffentlicht werden können. Barbara wußte gleich, welche Personen sich da jeden Tag informieren würden und dann in der U-Bahn auf einen Mann zeigen und die Polizei per handy herbeiholen. Und das wäre dann für die Sicherheit ihres Kindes. Barbara hatte nicht vor, ihr Kind irgendjemandem so auszuliefern, daß etwas derartiges möglich war. Deshalb hätte sie ja einen ordentlichen Kindergarten gewollt und eine Einreisepolitik, in der der Vater ihres Kindes seine Rolle erfüllen hätte können und sie ihre Angelegenheiten weiter verfolgen. Da waren Ali und Alex eine Rettung. Alexs Juniorprofessur war nicht verlängert worden. Er hatte den Platz für eine Mitbewerberin räumen müssen. Sie hatten genau gleich viele Punkte an Publikationen und Lehrerfahrung gehabt. Da hatte dann das Geschlecht den Ausschlag gegeben und die Frau war bevorzugt. Den Ali regte das fürchterlich auf. Alex lachte nur und sagte, daß das das Beste gewesen wäre. Ali und Alex hatten einen eigenen kleinen Salon gegründet, in dem Alex alles managte und eine kleine Buchhandlung mit Café führte. Ali mußte nur noch schneiden. Der Salon war gut eingeführt in der Schwulencommunity. Das wäre die Zukunft, sagte Alex. Erweiterte Lebensgemeinschaften. Anders ließe sich nicht mehr leben. Jedenfalls ungezähmt von einer strikten work/life balance in einem Job, in dem man unvermeidlich andere vernichten mußte. Alex arbeitete weiter an einem Buch. Er folgte den Spuren all der psychologischen Experimente in den verschiedenen Armeen und Gefangenenlagern und suchte nach den Schlußfolgerungen in den Managementtheorien. Der Krieg war nur vom Feld ins Büro verlegt. Aber Barbara hatte das ja selber an der Akademie miterlebt. Da wurden die interessantesten Personen am schlechtesten bezahlt und am kürzesten angestellt, damit sie am meisten leisteten. Die interessantesten Personen wurden also an die vorderste Front geworfen und Barbara wußte, daß die sich dann so fühlten. Ausgebrannt und zerstört. Und das war nicht anders als mit der kleinen Anelka. Man wurde an die Front geschickt. Ohne es bemerkt zu haben, war man da. War frau da. Und der Kampf mußte ganz allein durchgestanden werden, weil alle anderen ja nicht wußten, wo das alles stattfand. Und weil es keine Möglichkeit mehr gab, sich von dieser Front zu melden und etwas zu sagen, weil diese Front nur in einem selber stattfand. Barbara servierte Kaffee und Kuchen in Ali und Alex Café. Alle freuten sich an Anelka. Der Gedanke an den Pauli und wie weit weg er war und daß er die Anelka versäumte und wie es seiner Mutter ging und was sich da abspielte und warum das alles so war. Das alles war jetzt einmal nicht so schwer. Barbara hatte es sich nicht so vorgestellt. Aber es ging irgendwie. Und irgendwie war es. Ja. Tröstlich?
Fortsetzung folgt.
22.09.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Siebente Folge.
Die Tante Rosa war dann sehr still geworden. Die Tante Rosa hatte dann nicht einmal mehreine Freude an den Ausflügen zu den Orten, an denen sie als junge Frau gewesen war. Sie waren alle nach Innsbruck gefahren und mit der Seilbahn auf die Nordkette hinauf. Da war alles anders für die Tante Rosa. Dabei hatte sie einmal in der Bergstation als Kellnerin gearbeitet. Es war hier gewesen, daß die Ernie G. aus Kitzbühel sie entdeckt und dann nach Kitzbühel geholt hatte. Die Tante Rosa war dann schon ein wenig weinerlich, als sie von so hoch oben aufs Land hinausschaute und ihr alles wieder in Erinnerung kam. Alles, was damals begonnen hatte. Das war abgeschlossen und vorbei. Die Veränderungen an der Talstation führten ihr das deutlich vor Augen. Die Mutter von der Nadine fragte sie dann, ob sie richtig gesehen hätte, daß die Tante Rosa nach Tickets in die USA zurück gegoogelt hätte. Die Tante Rosa seufzte. Ja, sagte sie. Das würde schon stimmen. Aber sie verstünde das alles eben nicht mehr. Und Nadines Mutter müsse doch zugeben, daß da alles auch mit dieser Wahl zusammenhänge. Daß diese Wahl. Sie. Die Rosa. Sie bekäme es mit der Angst zu tun, wenn sie zusehen müßte, daß die einen immer noch an den Assimilierungsgesetzen von 1907 herumdokterten, an denen die Monarchie schon zugrunde gegangen wäre. Ihre Nichte Barbara könne den Vater ihres Babys nicht bei sich und dem Kind leben haben, weil dieser Mann ganz richtig sein Studium in Österreich abgeschlossen hätte und einen Tag nach Abschluß aus dem Land geworfen würde. Auch das wäre wie vor dem Ersten Weltkrieg. Und niemand spräche von dieser Wirtschaftskrise. Sie habe das Gefühl in eine Kasperltheateraufführung geraten zu sein. Das wäre ja nett, so lange diese Aufführung dauere. Aber was käme danach. In den USA könne sie jedenfalls ein Verständnis für ihre Situation erwarten und daß ihr alle helfen würden, wieder neu anzufangen. Dann müßte sie eben im Rollstuhl noch servieren oder sonst etwas machen. Aber die Lethargie hier. Ihr. Der Rosa. Ihr käme das alles so vor, wie ihre Mutter zu ihr gewesen wäre. Hartherzig und verächtlich und lächelnd und um jeden Preis. Auch um den Preis des eigenen Glücks. Ihre Mutter habe ja ihre, Rosas Verurteilung als uneheliches Kind, wichtiger gefunden, als das bißchen Glück, das sie ja auch haben hätten können. Und weil ihr diese lächelnde Lethargie so vorkam, wie diese tief unterdrückte Wut ihrer Mutter. Sie habe Angst. Sie wolle lieber dahin zurück, wo sie sich auskenne und wo sie sich deshalb besser entscheiden konnte. In den USA. Da sei es den Leuten irgendwie klarer, daß sie regiert würden und daß man das beeinflußen mußte. Hier. In Österreich. Es kümmere doch keinen. Alle täten doch so, als gäbe es nur diese eine kleine Welt und die Krise draußen. Die wäre erfunden. Ihr wäre das zu gespenstisch. Sie sähe ja, daß es niemandem gut ging. Jedenfalls nicht wirklich gut. Aber es gäbe ja nicht einmal eine Vereinbarung, was das nun wäre. Gut gehen. Zufrieden sein. Und weil es die nicht gäbe, könnte jeder Politiker behaupten, das zu wollen, aber jeder Regierte müsse fürchten, daß seine geheimen Wünsche nicht erfüllt werden würden. Niemand wüßte eigentlich, welche Rechte man hätte. Worauf man sich einließe, als österreichischer Staatsbürger. Irgendwie schien es doch zu reichen, wenn alle zu fressen hätten. Dann dürfte keiner sich mehr aufregen. Armut mache hier anders mundtot. Aber auch das war wie 1873. In Österreich hätten halt immer nur die höheren Herrschaften geredet. Da hatten die anderen keine Gelegenheit, das Reden zu lernen. Und das dauere halt an. Diese ÖVP. Die sei doch von den Schönerern und den Luegers nicht weggekommen. Das war der Mutter von der Nadine dann zu viel. Sie habe ja vielleicht recht, meinte sie. Aber sie könne dieses Geschimpfe auf die ÖVP nicht haben. Ihr Mann sei schließlich der Kassierer vom Wirtschaftsbund gewesen. Warum er das nicht mehr sei, fragte die Tante Rosa. Na ja. Das ginge ja nicht mehr. Nach einem Konkurs. Da schaue das nicht so gut aus. Das machte die Tante Rosa noch wütender. Ob die Mutter von der Nadine nicht sehen könnte, was hier passierte. Daß sie sich an etwas klammerten, was ihnen längst nicht mehr zugänglich war. Sie waren ausgeschlossen und konnten es nicht glauben. Sie waren abgestiegen und konnten es nicht aussprechen. Da begann die Mutter von der Nadine zu weinen. Jetzt müßten sie aber aufhören über alle diese Sachen zu reden. Denn für sie. Für die Mutter von der Nadine. Da hatte sich nichts im Leben bezahlt gemacht. Sie hatte immer alle Entscheidungen so getroffen, daß sie in die Welt hineingepaßt hatte. Und jetzt. Ihr Mann war ruiniert worden. Nicht zuletzt, weil das Bundesland mit einer Zahlung so lange herumgetan hatte und weil sie darauf vertraut hatten, daß ein Projekt, das vom Land so gefördert worden war. Daß das dann auch auf gesunden Beinen stand. Sie hatte ihr Leben lang gearbeitet und im Betrieb und zu Hause alles gemacht. Dafür bekam sie jetzt eine Rente von 375 Euro im Monat. Ihre Tochter konnte ihren Beruf nicht ausüben, weil die Ärztekammer den Zugang zum Arztberuf versperrte, damit die Konkurrenzsituation gemanagt wurde. Aber der Aufstieg ihrer Kinder. Der wäre damit verhindert worden. Ihre Nichte saß mit einem Baby in Deutschland in der Hoffnung, daß der Vater ihres Kindes über eine Einladung einer Galerie dorthin einreisen durfte. Natürlich hatte die Tante Rosa recht. Sie lebten, als wären sie in einen Krieg geraten und müßten die äußersten Sparmaßnahmen und Einschränkungen in Kauf nehmen. Die Tante Rosa würde das mißverstehen. Die Leute hier wären schon so mürbe gemacht, daß so eine Krise sie nicht aus der Ruhe bringen könne. Die Leute hier wüßten es als Normalität, wie Einschränkung und Mangel sich anfühlten. Deshalb wären alle so ruhig. Man wäre gewohnt, von unbestimmbaren Mächten umgeben zu sein. Das war dann alles so traurig, daß die Tante Rosa auch zu weinen beginnen wollte. Dann aber entschied sie sich zu lachen. Sie sollten nach Hause fahren und Bilanz machen. Und dann sollten sie eine Entscheidung treffen. Und wenn die Mutter von der Nadine mit ihr in die USA gehen müßte. Irgendetwas müßte möglich sein. Die Mutter von der Nadine schüttelte nur traurig den Kopf. Das könne sie nicht sehen. Sie fühle sich gefangen. Betrogen und gefangen. Für sie hätte sich keine Versprechung erfüllt. In ihrem Leben wäre es nur bei Versprechungen geblieben. Als sie unten dann angekommen wieder ins Auto stiegen. Die Tante Rosa zuckte mit den Achseln. Was hülfe es, daß die Landschaft so schön sei, sagte sie. Wenn man dann da nicht glücklich werden konnte. Ja, seufzte die Mutter von der Nadine. Aber müsse man nicht zufrieden sein, daß es irgendwie ginge. Da schüttelte die Tante Rosa ihren Kopf. So könne das nicht sein. Wenn man aufgäbe, für sein Glück zu kämpfen, dann hätten DIE schon gewonnen. Und apropos Glück. Als erstes sollten sie eine Fahrt nach Duisburg organisieren. Sie wolle dieses kleine Mädchen von der Barbara jetzt endlich einmal sehen, sagte sie. Das sei ja dann doch das Wichtigste. Sie fuhren zurück in ihr Haus in Brixen. Die Mutter von der Nadine hätte gerne über diese Vaterschaft von der Tante Rosa geredet. Aber das getraute sie sich nicht. Es war offenkundig, daß die Tante Rosa da etwas ausheckte.
Fortsetzung folgt.
29.09.2008 · Roman.
Das Leben geht weiter. Achte Folge.
Die Tante Rosa hatte dann darauf bestanden, daß zur Barbara nach Duisburg gefahren wurde,um die kleine Anelka endlich zu begrüßen. Der Ali und der Alex hatten ihren Frisiersalon für eine Woche geschlossen und waren in der Türkei. Wegen der Sonne. Die Tante Rosa konnte im Frisiersalon wohnen. Da war alles zu ebener Erde und es gab kein Problem wegen des Rollstuhls von der Tante Rosa und am Tag kamen alle dahin. Die Tante Rosa und die Mutter von der Nadine übernahmen die kleine Anelka und Barbara konnte sich endlich hinlegen und schlafen. Zuerst waren alle dauernd den Tränen nahe. Weil die kleine Anelka so süß war. Weil sie alle nicht gewußt hatten, in welch schrecklicher Situation Barbara mit ihr war. Weil der Pauli nicht nach Österreich einreisen durfte und sein Kind noch nicht gesehen hatte. Weil es der Mutter vom Pauli so schlecht ging wegen der Kriege in Yugoslavien und jetzt wieder in Russland und Georgien. Weil der Tante Rosa wegen der Wirtschaftskrise in den USA nichts bleiben würde. Weil die Barbara nicht weiter wußte. Dann aber war das Leben im Frisiersalon gleich so praktisch für alle, daß nichts mehr so schwierig erschien. Die Mutter von der Nadine wollte dann aber unbedingt zurück. Sie hatte keine Wahlkarte, weil sie nicht mit dieser Reise gerechnet hatte und sie wollte auf jeden Fall zur Wahl gehen. Ob das denn wirklich notwendig sei, fragte die Tante Rosa. Was wolle sie denn wählen. Die Mutter von der Nadine sagte darauf nichts, aber die Barbara und die Tante Rosa wußten, daß sie wie immer wählen würde. Ob ihr nicht aufgefallen sei, daß das die Leute gewesen seien, die ihr immer eingeredet hätten, daß eine Frau die Kinder und den Haushalt machen sollte und daß diesselben Leute wären, die sie dann nicht für diese Arbeit entlohnt hätten. Die Barbara wurde richtig wütend auf die ÖVP und die Rechten. Aber die anderen hätten doch auch nie etwas eingehalten, rief die Mutter von der Nadine. Und es wäre halt so. Sie ginge ja auch in die Kirche. Die Tante Rosa mußte lachen. Ihr wäre aufgefallen, daß in dem ganzen Wahlkampf jeder nur so vor sich hingeredet hätte. Es käme ihr vor, als wäre noch die Monarchie und die ganze Politik wäre nur so ein Kasperltheater, weil der Kaiser dann sowieso machen werde, was er wolle. Aber es ginge schon um das Leben der Leute jetzt gerade bei allem, was da vorgeschlagen wurde. Ihr schienen die Grünen ja interessant, aber die hatten ja keine Behindertenpolitiker mehr. Ja, ob sie denn liberal wählen solle, fragte die Mutter von der Nadine. Unter keinen Umständen, sagte die Barbara. Das klinge gut. Das mit der Grundsicherung. Aber das wäre nur eine Abwehr einer Umverteilung. Da würden Menschen auf das nackte Leben reduziert. Würdelos, müsse man so etwas nennen. Die Tante Rosa schüttelte den Kopf. Das wäre ja wirklich wie in der Monarchie. Die Liberalen holten den Reichen die Kohlen aus dem Feuer. Die Christlich-Sozialen hielten dem Kaiser und der Kirche gegen jedes eigene Interesse die Treue. Die Nationalen wollten allen die deutsche Sprache aufzwingen. Und die Sozialdemokraten fänden keine klare Sprache. Ja, gut, rief die Mutter von der Nadine. Sie würde Grün wählen. Das wäre schon das, was sie wolle. Und die Tante Rosa könne dann diesen Faymann haben. Aber woher könne die Tante Rosa so viel über die Monarchie wissen. Ach, antwortete die Tante Rosa. Sie habe in Gainsville dann Geschichte studiert. In den USA könne man ja immer alles nachholen. Und dieser Faymann. Der schiene doch am ehesten das, was man einen Staatsmann nennen könne. Das müsse gefeiert werden, rief die Barbara. Das mit dem Studium und noch nicht der Faymann. Sie holte eine Flasche Prosecco aus Alis Eiskasten. Nein, sie sollten alle Mineralwasser trinken, sagte die Tante Rosa. Aus Solidarität. Mit der stillenden Mutter. Und für die kleine Anelka. Die Barbara legte sich dann wieder hin. Die Tante Rosa und die Mutter von der Nadine führten die kleine Anelka dann spazieren. In dem hübschen Restaurant im Park tranken sie dann aber doch ein Glas Wein. Weil es nichts zu feiern gab und das kein Grund sein sollte, sagte die Tante Rosa.